Regierungskollaps nach Afghanistan-Streit Niederlande schlittern ins politische Chaos

Am Ende konnte auch ein 16-stündiges Krisentreffen die niederländische Regierung nicht mehr retten: Im Streit über die Verlängerung des Afghanistan-Mandats ist die Koalition von Jan Peter Balkenende zerbrochen. Jetzt droht politisches Chaos - profitieren könnte Rechtspopulist Geert Wilders.
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Streit um Afghanistan: Koalitionskollaps in den Niederlanden

Foto: VALERIE KUYPERS/ AFP

Am Ende war nichts mehr zu machen: Sichtbar übernächtigt und mit ernster Mine verkündet Jan Peter Balkenende am frühen Samstagmorgen das Aus für sein Kabinett.

"Ich stelle mit Bedauern fest", sagt der konservative niederländische Ministerpräsident, "dass eine erfolgreiche Zusammenarbeit von Christdemokraten, Sozialdemokraten und der Christen-Union nicht mehr möglich ist." Hinter ihm lagen zu diesem Zeitpunkt 16 Stunden Krisenmarathon. Die ganze Nacht hat Balkenende um das Überleben seiner Koalition gerungen - vergebens. Den Sozialdemolkraten warf Balkenende vor, sie hätten die Regierungskoalition mit ihrer Weigerung, einer Verländerung des Afghanistaneinsatzes zuzustimmen, mit einer "politische Hypothek" belastet.

Zu tief war der Graben, der sich in den vergangenen Monaten zwischen Sozialdemokraten und Konservativen aufgetan hatte. Eine Krise war der nächsten gefolgt. Erst kürzlich überstand die Koalition nur knapp einen Konflikt wegen eines Expertenberichts zur Invasion im Irak 2003. Jetzt ist sie gesprengt - und den Niederlanden droht ein monatelanges politisches Chaos.

Der Trick, der das Fass zum überlaufen brachte

Erste Risse zeigten sich im Verbund der Koalition bereits recht kurz nach Beginn der Zusammenarbeit vor drei Jahren. Zum Regierungsantritt vereinbarten die Partner, die niederländischen Truppen spätestens Ende 2010 aus Afghanistan abzuziehen. "Nur unter dieser Prämisse sind die Sozialdemokraten 2007 in die Regierung gegangen", sagt der Amsterdamer Politikwissenschaftler André Krouwel. "Das war so abgemacht. Das ist Recht und Gesetz."

Doch in den vergangenen Wochen versuchten die Christdemokraten offenbar, an dieser Abmachung zu rütteln. Der Regierung flatterte ein Brief der Nato ins Haus, in dem sie Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen darum bat, ihr Engagement vor Ort noch ein paar Monate zu verlängern. Ein Schreiben, das, da sind sich viele Beobachter sicher, auch auf Betreiben von Balkenendes christdemokratischer Partei entstand, um so die Verlängerung des Einsatzes gegenüber den Sozialdemokraten besser durchdrücken zu können. "Das war ganz klar ein Trick", sagt Krouwel.

Der "Trick" brachte nun das Fass zum Überlaufen. Wouter Bos, Vizepremier und Chef der Sozialdemokraten, setzte seinem Ministerpräsidenten in der vergangenen Woche das Messer an die Kehle: Entweder werde bis zum Freitag der Abzug beschlossen, drohte Bos, oder die Koalition sei Geschichte.

Niederländer wollen mehrheitlich den Abzug

Beim Volk kam diese Drohung gut an. Die Niederländer sind kriegsmüde. Seit 2006 sind in Afghanistan 21 ihrer Soldaten ums Leben gekommen. Die Region Urusgan im umkämpften Süden des Landes, wo die Truppen stationiert sind, gehört zu den ärmsten und gefährlichsten Gegenden. "Die Mehrheit der Bevölkerung ist für den Abzug", sagt Krouwel. "Man findet, dass wir unseren Anteil getan haben - und jetzt mal Andere übernehmen sollen."

Das findet auch Vize-Premier Bos. Seine sozialdemokratische PvdA leidet seit Monaten unter ständigem Ansehensverlust. Seit der Wahl im November 2006 hat sich fast ein Drittel ihrer Wähler von den Sozialdemokraten abgewendet. In den nationalen Umfragen rutschte die einstige Volkspartei zeitweise unter 15 Prozent. Bei den Kommunalwahlen am 3. März drohte ihr nun ein historisches Debakel. "Es sah so aus, als würde die PvdA fast die Hälfte ihrer Stimmen verlieren", sagt Krouwel. "Bos blieb gar keine andere Wahl. Sonst hätte er seine Partei beerdigen können."

Der Partei hat Bos einen Dienst erwiesen - seinem Land nicht. Denn eine neue Regierung zu bilden, dürfte extrem schwer werden. Die niederländische Parteienlandschaft ist heillos zersplittert. Lediglich die Christdemokraten kommen derzeit in den Umfragen auf knapp über 20 Prozent. Die Sozialdemokraten liegen laut Umfrageinstitut Synovate derzeit bei 13,9 Prozent. Die PVV des Rechtspopulisten Geert Wilders mit momentan bei 16,2 Prozent an Platz zwei. Entsprechend schwierig dürfte die Regierungsbildung ausfallen. Nach heutigem Stand wären dafür mindestens vier Parteien nötig.

Rechtspopulist Wilders könnte vom Chaos profitieren

Am Nachmittag kündigte Balkenende bei Königin Beatrix telefonisch sein Rücktrittsgesuch an, die derzeit in Österreich urlaubende Monarchin wird noch im Lauf des Tages in den Niederlanden zurückerwartet. Dann wird Balkenende offiziell den Rücktritt seiner Regierung einreichen. Nimmt die niederländische Königin an, gibt es Neuwahlen. Und wer deren Gewinner sein wird, ist völlig unklar.

"Die Sozialdemokraten werden sicher von Bos' Manöver profitieren", ist Politologe Krouwel überzeugt. Aber auch die Rechtspopulisten von Geert Wilders könnten Gewinner der Regierungskrise werden, falls nach dem Debakel der CDA nun viele Konservative zur Rechtsaußen-Partei PVV überwandern. "Wilders wird die ihm gebotene politische Bühne nutzen", sagt Krouwel. "Vielleicht wird er mit seiner Partei stärkste Kraft."

Wie auch immer die frühestens im Mai möglichen Neuwahlen ausfallen, sie werden ihren Tribut fordern. Statt auf Krisenbewältigung und Reformen werden sich die Politiker in den kommenden Wochen und Monaten auf Kampagnen und Wahlkampf konzentrieren. Politikwissenschaftler Krouwel rechnet mit einer Regierungsbildung nicht vor August.

Wer ersetzt das niederländische Kontingent in Afghanistan?

Die Krise erwischt das Land zu eine äußerst ungünstigen Zeitpunkt. In diesem Jahr werden die Niederlande wohl mit einem Haushaltsdefizit von mehr als sechs Prozent zu kämpfen haben. Und von der Interimsregierung aus den verbleibenden Regierungsparteien, die wohl nun eingerichtet werden dürfte, ist nicht viel zu erwarten. Sie verfügt weder über eine Mehrheit im Haager Parlament noch über eine demokratische Legitimierung.

Und selbst nach den Wahlen dürften die harten Zeiten für die Niederlande noch nicht überstanden sein. Egal, ob eine Koalition der Linken oder Rechten gewinnt - "keine Kombination wird ideal sein", sagt Krouwels. "Wilders ist eine führungslose Rakete, er ist unberechenbar. Und viele der kleine Parteien haben einfach nicht das Personal, um eine starke Regierung zu bilden."

Auch der Nato stehen schwere Zeiten in Afghanistan bevor: "Der Abzug ist Gesetz", sagt Krouwel. Das müsse auch das atlantische Bündnis akzeptieren. Und dass eine neue Regierung eine Kehrtwende einleiten wird, glaubt niemand. Denn auch die bisherigen Oppositionsparteien sind größtenteils für die Heimkehr der Soldaten.

Nach außen hält sich die Nato zurück. "Man werde sich nicht in interne Angelegenheiten des Landes einmischen, erklärte ihr Sprecher James Appathurai am Wochenende in Brüssel. Doch der Abzug der rund 1950 Soldaten wird eine tiefe Lücke reißen - wer die füllen soll, ist völlig unklar.

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