Revolte gegen Gaddafi Libyens Araberstämme drohen mit Ölförderstopp

Revolte gegen Gaddafi: Libyens Araberstämme drohen mit Ölförderstopp
Foto: Anonymous/ APLieber ein Blutbad statt Regimewechsel: Libyens Herrscher scheint gewillt, einen Krieg gegen seine Untertanen zu führen, um an der Macht zu bleiben. In einer wirren, vor düsteren Drohungen strotzenden Fernsehansprache machte sein Sohn Saif al-Islam Gaddafi dies in der Nacht zum Montag klar. Sollte das Volk seine Proteste nicht einstellen, könne es "Tausende Tote" geben. "Flüsse voller Blut werden durch Libyen fließen", warnte Saif al-Islam. Sein Vater werde bis zum letzten Mann, bis zur letzten Frau, bis zur letzten Kugel kämpfen.
Nach Ansicht von Experten steuert das nordafrikanische Ölland damit auf eine Katastrophe zu. Die Tage von Gaddafi als Alleinherrscher Libyens seien gezählt, der Kampf um den Machterhalt schon verloren, meint Lahsen Atschi, Nordafrika-Experte vom Carnegie Center in Beirut: "Das Regime ist tot, erledigt. Für Reformen von oben herab ist es viel zu spät." Auf eine friedliche Lösung dürfe man jedoch nicht hoffen: Klein beigeben wie Tunesiens Präsident Zinedine Ben Ali oder Ägyptens Diktator Husni Mubarak werde der seit 41 Jahren herrschende Gaddafi so schnell nicht. "Dazu bräuchte es eines rationalen Menschen. Das ist Gaddafi nicht", sagt Atschi. Gaddafi lege es auf einen finalen Kampf an, ganz schwebe deshalb in "größter Gefahr".
Dass sich der Gaddafi-Clan auf eine letzte Schlacht eingeschworen hat, scheint bereits entschieden: Darin waren sich Analysten in den großen arabischen Fernsehsendern am Montag einig. Fraglich ist nun, wie viele seiner Landsleute der zum Untergang verdammte Gaddafi mit ins Verderben reißen wird. Viele, allzu viele, fürchten Beobachter.
Denn auch wenn sich in der Hafenstadt Bengasi, die inzwischen offenbar von Aufständischen kontrolliert wird, einzelne Einheiten der Armee den Revolutionären angeschlossen haben sollen - ein Gutteil der Armee steht immer noch hinter Gaddafi.
Dabei kämpfen Libyens Soldaten in diesen Tagen nicht mehr nur für ihren Führer, sondern auch ums eigene Leben. Sollte es zum Umsturz kommen, können sie nicht mit Gnade rechnen. Augenzeugen berichteten in den vergangenen Tagen über Lynchmorde in Bengasi und der Küstenstadt al-Baida. Demonstranten hätten in ihre Gewalt geratene Polizisten erschlagen, schrieben bis dato verlässliche Quellen auf Twitter. Überprüfbar sind diese Meldungen nicht. Libyen lässt derzeit keine ausländischen Reporter ins Land.

Dass seine Streitkräfte ihm mit Kadavergehorsam in den Untergang folgen werden, hat Gaddafi von langer Hand geplant. Der ebenso gerissene wie exzentrische Langzeit-Diktator hat den Generalstab mit seinen Familienangehörigen und Stammesmitgliedern durchsetzt. Seine Söhne Khamis und Saadi sind hochrangige Mitglieder des Führungsgremiums der Armee, beide sollen bei der Niederschlagung der Proteste an vorderster Front kämpfen. Ein weiterer Sohn, Mutassim al-Gaddafi, koordiniert als nationaler Sicherheitsberater das Vorgehen gegen die Aufständischen.
Libyen ist nicht Ägypten, nicht Tunesien. Das zeigt sich in diesen Tagen deutlich: Anders als in seinen Nachbarländern, in denen sich die Streitkräfte jeweils eine gewisse Autonomie vom Regime bewahrt hatten und sich so zu gegebener Zeit auf Seite der Aufständischen schlagen konnten, scheint eine Konfrontation zwischen Militär und politischer Führung in Libyen nicht möglich: Die Sicherheitskräfte dort sind Teil des Regimes. Kippt das System, gehen auch sie unter. Die Gaddafis sollen gegenüber ihren Anhängern eine klare Parole ausgegeben haben, berichtet die arabische Zeitung "al-Schark al-Ausat": "Wir werden alle auf libyschem Boden sterben."
"Wir sagen dem Bruder, dass er nicht mehr unser Bruder ist"
Ein wichtiges Indiz, dass die Herrschaft Gaddafis rasant erodiere, sei die Kehrtwende der Stämme in Libyen, sagt Nordafrika-Experte Atschi. "Libyen funktioniert nur auf der Grundlage von Stammesstrukturen, bei den Stämmen liegt die wahre Macht." Autokratische Systeme im Nahen Osten erkaufen sich die Loyalität der Stämme traditionell mit Geldzahlungen an deren Führer, die es dann unter ihren Anhängern verteilen. In Libyen verwand Gaddafi bislang einen guten Teil des Öl-Geldes darauf, sich die Stämme gewogen zu halten.
Am Sonntag hatten sich zwei der wichtigsten Stämme des Landes vom Regime losgesagt. Der Führer der Warfalla, dem größten Stamm Libyens, sagte "Wir sagen dem Bruder [Gaddafi, d. Red.], dass er nicht mehr unser Bruder ist." Gaddafi solle das Land verlassen, forderte Akram al-Warfalli. Die Warfallas leben südlich der Hauptstadt Tripolis. Im Oktober 1993 hatten Armee-Offiziere des Warfalla-Stamms einen Mordversuch an Gaddafi unternommen, der jedoch misslang.

Ein Sprecher des Suwaidscha-Stammes drohte, sein Clan werde die libysche Öl-Wirtschaft lahmlegen, wenn das Regime nicht mit der "Unterdrückung der Protestler" aufhöre. Sollte die Staatsmacht nicht einlenken, werde der Ölfluss in westliche Länder "innerhalb von 24 Stunden" gekappt, zitiert al-Dschasira den Stammesführer. Die Suwaidschas leben südlich der Stadt Bengasi, die besonders schwer von den Attacken auf Regimegegner betroffen ist. Allein am Sonntag kamen einem Arzt zufolge mindestens 50 Menschen in Bengasi ums Leben. Südwestlich von Bengasi liegt Ras Lanuf, Libyens wichtigster Ölexporthafen.
Auf Internetseiten der Oppositionellen hieß es am Montag, zwei Stämme planten, die Stadt Sabha in Zentrallibyen unter ihre Kontrolle zu bringen. Zuvor gab es Gerüchte, wonach Gaddafi sich dorthin zurückgezogen haben soll. Der Machthaber besitzt über ganz Libyen verteilt schwer bewachte Anwesen.
Die wahre Macht der Stämme liege in ihrer Kontrolle über die Erdölreserven Libyens, meint Libyen-Kenner Atschi. Besonders im Zentrum und Süden des Landes hätten die Stämme ihre Hand am Ölhahn. "Die meisten Arbeiter auf den Ölfeldern sind Stammesangehörige, durch Streiks können sie die Förderung jederzeit stilllegen." Die Clans könnten dadurch enormen Druck auf das Regime und auf das westliche Ausland ausüben.
Auch Hadi Schaluf, französisch-libyscher Anwalt am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, warnte, die Aufständischen könnten die Erdölindustrie angreifen, um die Weltöffentlichkeit auf die Geschehnisse in Libyen aufmerksam zu machen.
Noch ist dieses Szenario aber Spekulation, denn bislang hatte jahrzehntelang nur einer die Kontrolle über Libyens Ölexporte: Muammar al-Gaddafi.