Revolte in Kairo Sicherheitskräfte setzen mysteriöses Tränengas ein
Berlin - Schon im Januar, auf dem ersten Höhepunkt der ägyptischen Revolte, griffen die Sicherheitskräfte neben ihrem Knüppel auch auf Tränengas zurück. Das Mubarak-Regime hatte über Jahre hinweg offenbar Gasgranaten in unvorstellbaren Mengen eingekauft. Zeitweise war der beißende Nebel so dicht, dass selbst auf den Balkonen im 9. oder 10. Stockwerk den Einwohnern der Innenstadt die Augen tränten.
Nun sieht es in Kairo wieder aus wie Anfang des Jahres: Am vierten Tag in Folge versucht der Militärrat, der nach dem Rücktritt des Präsidenten Husni Mubarak im Februar die Macht übernahm, unzufriedene Demonstranten vom symbolbeladenen Tahrir-Platz zu vertreiben. Und wieder wird Tränengas in großer Menge eingesetzt. Doch dieses Mal, so berichten Hunderte Demonstranten übereinstimmend in Blogs, auf Facebook und über Twitter, ist das eingesetzte Gas offenbar um ein Vielfaches stärker. "Viele sind durch das Inhalieren des Gases bewusstlos geworden", schrieb ein Augenzeuge auf Twitter. Dutzende andere bestätigten das: "Die Leute am Rande des Tahrir-Platzes kollabieren durch das Gas", schreiben sie, oder auch: "Dieses Gas ist definitiv ein stärkeres als zuvor."
Ob diese Vermutung stimmt, um welches Gas genau es sich handelt, all das ist noch unklar. Erste Fotos von leeren Gas-Granaten kursieren über Flickr und Tumblr, sie zeigen Kartuschen vor allem "Made in USA", einige sollen auch aus italienischer Produktion stammen.
CR-Gas? CS-Gas? Gerüchte machen die Runde
Zahllose Gerüchte kursieren, und auch wenn vermutlich nicht alle stimmen, ist zumindest klar ersichtlich, dass das Tränengas eine große Sorge der Demonstranten ist. Am Dienstag wurde die unbestätigte Meldung verbreitet, ein acht Monate altes Mädchen sei an den Folgen von Tränengas gestorben; ebenfalls unüberprüften Berichten zufolge habe ein Mitarbeiter des Leichenschauhauses zwei Todesfälle durch Inhalieren von zu viel Tränengas bestätigt.

Über Twitter kursieren Meldungen, dass es sich um zwei Arten von Tränengas handle: CS und CR. CS ist der weltweit gebräuchlichste Typ von Tränengas. Sein Einsatz durch die Polizei ist in vielen Ländern nicht nur erlaubt, sondern auch üblich. Allerdings spielt die Frage der Konzentration des Gases eine Rolle bei der Entfaltung der Wirkung - und der Nebenwirkungen: Einige Kartuschen auf relativ offenem Gelände sind etwas anderes als Dutzende Kartuschen in einer engen Gasse.
Die Website bikyamasr.com behauptet, sie habe Container geprüft und festgestellt, dass es sich um CR-Gas handle, das nicht nur seit fünf Jahren abgelaufen sei, sondern ernsthaft gesundheitsgefährdend sei. Leberschäden zum Beispiel oder eine Häufung von Fehlgeburten ließen sich auf den Wirkstoff zurückführen.
Ähnliche Informationen finden sich, unter Berufung auf wissenschaftliche Studien, auch im Wikipedia-Eintrag zu CS-Gas. CS-Gas wird als Tränengas international weitaus häufiger eingesetzt. CR-Gas wiederum sei sechs- bis zehnmal potenter als CS-Gas und könne bei intensivem Kontakt tödlich sein. Es sei allerdings weniger giftig als CS-Gas.
"Peinlich für die Regierung Obama"
Aktivisten haben mittlerweile eine Online-Petition aufgesetzt, in der die USA aufgefordert werden, kein Tränengas mehr an Ägypten zu verkaufen beziehungsweise den Verkauf durch US-Firmen nicht länger zuzulassen. Präsident Barack Obama hatte sich immer wieder hinter die Revolutionäre in Ägypten gestellt. "Dass Menschen durch US-Geschosse verletzt werden, ist peinlich für die Regierung Obama", schrieb der britische "Guardian".
Einige der Gas-Kartuschen scheinen aus der Produktion der US-Firma Combined Systems Inc. zu stammen. Dem "Guardian" gegenüber wollte das Unternehmen sich aber nicht äußern. Das Blatt zitierte Experten mit der Vermutung, dass in Kairo vermutlich "Standard-CS-Gas" eingesetzt werde, verwies aber zugleich auf Studien des US-Militärs, denen zufolge die Wirkung des Gases wesentlich heftiger ausfällt, wenn die Betroffenen erschöpft oder physisch aktiv sind.
Beides dürfte auf die Großzahl der Demonstranten auf dem Tahrir-Platz zutreffen - viele sind seit Tagen auf den Beinen, außerdem rennen sie immer wieder vor den Tränengas-Schwaden davon oder flüchten vor Schüssen durch die Straßen. Zudem deuten Bilder aus Kairo darauf hin, dass die Sicherheitskräfte Gaspatronen tatsächlich in sehr dichter Folge abfeuern, was in Kairos engen Straßen schnell eine extreme Konzentration des Gases zur Folge haben kann.
Die Demonstranten sind ratlos
Die Demonstranten tauschen sich derweil darüber aus, wie sie dem Gas am besten begegnen können. Taucherbrillen sind in Kairos Innenstadt so gut wie ausverkauft, Atemmasken ebenso. Anfang des Jahres hatten die Jugendlichen noch auf essiggetränkte Stofftücher gesetzt. Jetzt häufen sich Berichte, dass das nicht mehr wirkt, eben weil es entweder ein anderes oder stärkeres Gas sei. Die Verwirrung ist groß. Während einige Aktivisten dazu raten, die Gaskartuschen in Wassereimern zu löschen, warnen andere genau davor.
Der ägyptische Militärrat sieht sich angesichts des Verhaltens und der Brutalität der Sicherheitskräfte in den vergangenen drei Tagen zunehmender Kritik auch von Menschenrechtsorganisationen ausgesetzt. Zwar drückten die Generäle ihr Bedauern über die mittlerweile wohl über 30 Toten und mehr als 1000 Verletzten aus. Doch auf den Straßen hat sich anscheinend nichts geändert. Im Gegenteil: Am Montag sollen Angehörige des Militärrats mehreren ägyptischen Medien zufolge den Einsatz von Tränengas damit verteidigt haben, dass die USA gegen Demonstranten im eigenen Land ebenso vorgingen. Tatsächlich kam bei den "Occupy"-Protesten auch Pfefferspray zum Einsatz.
Aber die Bilder des vernebelten Tahrir-Platzes sprechen für sich: Die Dimensionen in Kairo sind ganz andere.