Roma in der Slowakei Europas vergessenes Volk

Die Slowakei, in der heute ein neuer Präsident gewählt wird, gilt als Musterschüler unter den EU-Neulingen. Doch die wirtschaftlichen Erfolge des Landes gehen auf Kosten der Außenseiter: Die Roma werden noch stärker an den Rand der Gesellschaft gedrückt, inzwischen kommt es zu Aufständen.
Von Lars Langenau

Der 18. ist Zahltag. Etwa 200 Roma belagern an diesem Tag im März das Rathaus der ostslowakischen Kleinstadt Turna. Lautstark fordern sie die Auszahlung ihrer Sozialhilfe. 15 Wagen voll mit Spezialkräften der Sicherheitsorgane rollten an - unterstützt von kreisenden Hubschraubern.

Seit Anfang des Jahres wiederholt sich dieses Spektakel immer am 18. eines Monats in den Siedlungen der slowakischen Roma: Zum 1. März reduzierte die Regierung unter dem christdemokratischen Ministerpräsident Mikulas Dzurinda die Sozial- und Familienbeihilfe drastisch - und entkoppelte sie von der Anzahl der Kinder.

Die Maßnahmen treffen zwar alle Slowaken, aber niemand so hart wie Roma-Familien. Denn auf ihren Nachwuchs sind sie besonders stolz. Bekam bislang eine Familie mit zwei Kindern monatlich umgerechnet rund 250 Euro, so sind es jetzt nur noch 117 Euro. Höchstens 37 Euro können sich die Familienmitglieder noch durch gemeinnützige Arbeiten dazu verdienen.

Neben diesem Kahlschlag kürzte die Regierung auch die Unternehmens- und Einkommenssteuer auf den einheitlichen Niedrigsatz von 19 Prozent. Doch dass gleichzeitig die Mehrwertsteuer für Verbrauchsgüter wie Brot und Benzin von 15 auf die 19-Prozent-Einheitsquote erhöht wurde, trifft wieder nur die Ärmsten.

Die Empörung über den Kahlschlag ist noch immer groß. Erst blockierten die Roma Straßen, dann die Rathäuser. Schließlich wurde ein kleiner Lebensmittelladen geplündert, dann waren die Supermärkte dran. In Fernsehkameras riefen Kinder und Mütter "Wir haben Hunger".

Der größte Polizeieinsatz seit der Wende

Der Regierung fiel nichts Besseres ein, als die Mobilisierung von 20.000 Polizisten und Soldaten - der größte Einsatz seit der "Samtenen Revolution" von 1989.

Der slowakische Arbeitsminister, Ludovit Kanik, verteidigte die Kürzungen. Er habe doch nur, so seine Worte, das "System der Passivität" der Roma mit "Aktivierungsmaßnahmen" anregen wollen - und außerdem sei es schon zu Unruhen gekommen, bevor erstmals die zusammen gestrichene Stütze ausgezahlt wurde. Die Schuldigen hatte Kanik schnell ausgemacht: Wucherer, einige Roma-Anführer, aber auch "lokale Repräsentanten der Kommunistischen Partei und der Gewerkschaften".

Roma bekommen in der Slowakei keine Bankkredite. In den Ghettos machen deshalb Wucherer ihre Geschäfte, "sie verlangen Zinsen von bis zu 100 Prozent" berichtet Erika Godlova.Die städtische Angestellte aus dem ostslowakischen Presov setzt sich ehrenamtlich für die Belange der Roma ein. Der Wucher führt mitunter zu moderner Leibeigenschaft. Viele Roma, die in den westlichen Großstädten betteln gehen, sind Schuldsklaven. Sie müssen solange auf die Straße, bis sie die Kredite zurück bezahlt haben.

Ganz am Ende der Kette der Geldverleiher würden oft genug slowakische Bürgermeister stehen, sagt Godlova. Allerdings gibt es auch viele Roma, die andere Roma ausbeuten.

Lunik IX: Europas größtes Roma-Ghetto

Auch Robert David ist auf die Stütze des Staates angewiesen. Robert lebt in einem Lager ohne Zäune. Mit seinen Eltern und zwei Geschwistern wohnt der 19-jährige Rom in einem der maroden Plattenbauten der siebziger Jahre von Lunik IX. Dieses extraterritoriale Gelände sozialistischer Billigarchitektur im Osten der Slowakei ist Europas größtes Roma-Ghetto, 5000 Menschen leben hier. Lunik IX. ist eine Insel der Dritten Welt - nur zehn Minuten Autofahrt vom Zentrum der zweitgrößten slowakischen Stadt Kosice (Kaschau) entfernt. Eine Gegend, die zu den zehn ärmsten Gebieten Europas zählt.

Der futuristische Name der Siedlung widerspricht vollständig der deprimierenden Gegenwart seiner Bewohner. Entgegen dem Klischee haben die Roma hier Zahnlücken - und keinen goldenen Ersatz, der glänzt, wenn sie jemanden anlächeln. Die Siedlung ist abgeschnitten von der Gas- und Stromversorgung, von heißem Wasser und der Müllabfuhr. Auf dem Gelände liegen Unmengen von Plastikabfällen, ausgeschlachtete Pkw. Irgendwo kokelt ein Müllcontainer vor sich hin. Kinder spielen an einem kleinen Betonteich, der sich in einen stinkenden Tümpel mit Unrast verwandelt hat.

Normalerweise herrscht in dem Slum Langeweile pur. Der Altersdurchschnitt liegt bei 15 Jahren. Bei Sonnenschein sitzen die Jungen auf Bänken, üben sich im Weitspucken, betäuben sich mit dem Nationalschnaps Boroviczka oder Bier, halten Zigaretten und Joints in den Händen - oder blicken einfach nur stumpf umher. Bei schlechtem Wetter starren sie auf die Wände ihrer Wohnungen.

Vor zwei Jahren verließ die letzte slowakische Familie die Siedlung. Wer keine Miete zahlt, sonst irgendwie auffällig ist oder einfach nicht weiß wohin, kommt nun hierher.

Vertrieben von Skinheads

Für Robert und seine Familie war Lunik IX Endstation einer Flucht. Vor drei Jahren wurden sie aus der Kleinstadt Stos vertrieben. Unter den Augen örtlicher Polizisten warfen slowakische Skinheads die Fensterscheiben ihres kleinen Hauses ein.

Zuvor wurden sie über Wochen täglich am Telefon bedroht: "Zigeuner, verlasst die Stadt oder ihr werdet sterben." Auch die Behörden gängelten die Familie. Der Vater hatte Arbeit als Schweißer - und wurde doch eines Tages ohne Angabe von Gründen verhaftet, der Bruder von der Polizei zusammengeschlagen. Die Familie David zog es vor, zu gehen.

Nirgendwo in der Slowakei werden die mehr als 400.000 Roma akzeptiert. "Roma" bedeutet einfach nur Mensch. Doch ihre Arbeitslosigkeit liegt landesweit bei 95 Prozent, überall haben sie mit rassistischen Vorurteilen zu kämpfen. Keine Bevölkerungsgruppe in Europa muss unter inhumaneren Bedingungen leben. Im Durchschnitt sterben sie zehn Jahre früher als die übrigen Slowaken.

Die Kommunisten versuchten, die Roma sesshaft zu machen. In die barocke Innenstadt Kosices wurden sie in den fünfziger Jahren einquartiert. Die KP garantierte ihnen soziale Sicherheit und einen bestimmten Lebensstandard - zerstörte aber ihre Wurzeln, ihre Geschichte, oft auch ihre Clan-Strukturen. Bis 1990 herrschte Arbeitspflicht auch für die Roma. Meist blieben sie aber unqualifizierte Saison- und Wanderarbeiter - und damit auch unter den Kommunisten verachtete "Lumpenproletarier". Mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums verloren sie ihre Arbeit - und ihren fragilen Halt in der Gesellschaft. Die nun herrschende Depression hat der Salzburger Karl-Markus Gauß* in seinem Buch "Die Hundeesser von Svinia" trefflich beschrieben.

Nach dem Kindergarten auf die Behindertenschule

Wie die Apartheit in der Slowakei funktioniert, erfährt man im Kindergarten von Lunik IX.

Von den Außenseiten wirkt der Flachbau wie ein Gefängnis. Türen und Fenster sind durch Stahlplatten ersetzt - ein Geschenk der benachbarten Stahlfabrik, die vor einigen Jahren der amerikanische Konzern US Steel übernommen hat. 130 Kinder, die nur Romanes sprechen, sollen hier Slowakisch lernen. 300 Kinder stehen auf der Warteliste.

Trotzdem landen die meisten Kinder der Roma in Behindertenschulen. Viele Roma sind Analphabeten. Bildung zählt in ihrer Kultur nicht viel. Außerdem könnte ein lesender Sohn die Autorität seines Vaters erschüttern.

Diese Art "soziale Behinderung", lässte schon die Kinder zu Ausgestoßenen werden, sagt Elena Kriglerova, die Roma-Expertin des Instituts für Public Affairs in Bratislava (Preßburg).

"Ich sehe rot", sagt die Romni Erika Godlova deprimiert. Selbst die EU-Sozialprojekte, die den Roma zugute kommen sollen, seien eine "große Lüge". Mit den Millionen würden nur Seminare und Konferenzen in erstklassigen Hotels mit Essen organisiert - bei den wirklich Bedürftigen käme keine Krone an.

Nun hat Arbeitsminister Kanik erstmal vorgeschlagen, die Sozialhilfe in Naturalien auszuzahlen. Er glaubt, damit den Wucherern das Handwerk legen zu können. Elena Kriglerova hält das für unsinnig: "Wir müssen die Roma dazu erziehen, dass sie mit Geld umgehen können."

Tatsächlich ist genau das eine der Ursachen ihrer oft enormen Verschuldung bei skrupellosen Wucherern, die sie so in Leibeigenschaft halten können - und zu Betteltouren in Richtung Westen zwingen.

Der Westen, ein anderes Land

Natürlich gibt es neben Lunik IX. auch eine andere Slowakei. Es liegt 460 Kilometer weiter westlich und ist nur eine Stunde Autofahrt von Wien entfernt.In der Boomcity Bratislava liegt die Wirtschaftsleistung pro Kopf mittlerweile über dem der fünfzehn alten EU-Mitglieder. Landesweit drückt eine Arbeitslosenquote von 17 Prozent die Slowaken - in Bratislava herrscht dagegen fast Vollbeschäftigung.

Kaum jemand traute der ehemaligen "Waffenschmiede des Warschauer Paktes" diese rasante Entwicklung nach der Trennung von Tschechien kaum zu. Die Slowakei wird bald zu einem der wichtigsten Standorte der Automobilindustrie aufsteigen: Nach VW und Peugeot baut nun auch der koreanische Autohersteller Hyundai ein großes Werk.

Das ist die slowakische Erfolgsgeschichte, bewundert von Ökonomen in aller Welt. Die Roma kommen in dieser Geschichte nicht vor.

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* Karl-Markus Gauß, "Die Hundeesser von Svinia", Paul Zsolnay Verlag, Wien 2004

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