

Hamburg/Kigali - Ein lauter Knall erschüttert am 6. April 1994 den Abendhimmel über Kigali. Beim Landeanflug auf den Flughafen der ruandischen Hauptstadt wird die Maschine des Präsidenten von einer Boden-Luft-Rakete getroffen. Staatschef Juvenal Habyarimana und sein Amtskollege Cyprien Ntaryamira aus Burundi kommen in den Trümmern ums Leben. Es ist der Auftakt für ein beispielloses Morden - und eine gewaltige Flüchtlingskatastrophe.
Auch 20 Jahre danach ist nicht geklärt, wer die Rakete abfeuerte. Doch für die Anhänger des getöteten Präsidenten ist klar, dass die Minderheit der Tutsi hinter dem Anschlag steckt. Schon eine halbe Stunde nach dem Attentat beginnt das Töten in Ruanda. Die Präsidentengarde macht ohne Rücksicht Jagd auf Tutsi und prominente Vertreter der Hutu-Mehrheit, die sie bezichtigt, mit den Attentätern unter einer Decke zu stecken. Zwischen 800.000 und einer Million Menschen sterben in den folgenden hundert Tagen.
Zehntausende Menschen sind jahrelang auf der Flucht - unter ihnen viele Kinder, die in den Kriegswirren von ihren Eltern getrennt wurden. Die Hilfsorganisation Save the Children hat 1994 Kinder und Jugendliche in Flüchtlingslagern geholfen, deren Mütter und Väter tot oder verschollen waren. Mehr als 8000 Mädchen und Jungen wurden fotografiert. Mit Hilfe der Bilder sollten die Kinder mit ihren Familien wiedervereinigt werden.
Zum 20. Jahrestag des Genozids in Ruanda hat Save the Children dieses Bildarchiv erstmals geöffnet. Die Organisation konnte einige der damals Porträtierten wieder ausfindig machen. Beim Blick auf die Bilder ihrer Jugend erinnern sie sich an die Flucht und das Grauen des Völkermords.
Lesen Sie die Geschichten der Flüchtlingskinder in unserer Fotostrecke.
SPIEGEL+-Zugang wird gerade auf einem anderen Gerät genutzt
SPIEGEL+ kann nur auf einem Gerät zur selben Zeit genutzt werden.
Klicken Sie auf den Button, spielen wir den Hinweis auf dem anderen Gerät aus und Sie können SPIEGEL+ weiter nutzen.
Evans war acht Jahre alt, als er 1994 mit seinem Bruder Jean-Baptiste, 15, vor dem Völkermord fliehen musste. Sie konnten sich in ein Waisenhaus retten.
"Als ich auf der Flucht war und mich versteckte, dachte ich an gar nichts", erinnert sich Evans 20 Jahre später. "Wenn ich mir heute das Foto von damals anschaue, sehe ich ein Kind, das viel gelitten hat. Das Kind auf diesem Foto wusste nicht, was mit seiner Familie geschehen war. Nachdem das Bild aufgenommen worden war, litt ich sogar noch mehr, nachdem mir klar wurde, dass meine Eltern tot waren. Stück für Stück sind meine Wunden verheilt, aber mein Leiden trage ich immer noch mit mir."
Save the Children konnte Evans (im Bild) und seinen Bruder Jean-Baptiste mit einem Onkel zusammenführen. Heute arbeitet er in einer Metzgerei in einer Kleinstadt östlich von Kigali.
"Als die Massaker passierten, rannte ich davon und versteckte mich mit meinem Bruder in den Zuckerrohrfeldern am Fuß der Berge", erinnert sich Jean-Baptiste. "Wir versteckten uns tagelang ohne etwas zu essen, aber ich fühlte nicht einmal Hunger. Ich dachte nur daran, dass wir auf keinen Fall entdeckt werden durften. Ich wusste, dass wir sonst getötet werden würden. Wenn ich mir das Bild von damals anschaue, erinnere ich mich daran, dass ich zu dieser Zeit hoffte, weiter zu studieren. Aber ich konnte die Schule niemals abschließen. Das Bild erinnert mich daran, was ich verloren habe."
Nach seiner Flucht konnte es sich Jean-Baptistes Familie nicht leisten, den 15-Jährigen wieder zur Schule zu schicken. Er kehrte in sein Dorf zurück, um dort zu arbeiten. Seit sieben Jahren ist er als Wachmann tätig. "Ich tue alles, um meinen Kindern die guten Sachen zu geben, die ich nicht haben konnte", sagt Jean-Baptiste.
In den ersten Tagen des Genozids in Ruanda musste Flodouard mitansehen, wie seine Eltern ermordet wurden. Mit seinen jüngeren Geschwistern Cyprien und Gloriose konnte er in ein Waisenhaus fliehen. "Ich war dabei, als meine Eltern am 11. April 1994 beim Massaker getötet wurden. Ich konnte mich unter den Leichen verstecken. Es war als, würde Gott persönlich mich verstecken. Ich konnte fliehen und rannte so lange, bis ich zu den Militärkasernen gelangte."
Flodouards jüngerer Bruder Cyprien war 13, als das Morden begann. "Bei dem Blick auf das Foto sehe ich, dass ich damals glücklich war. Ich wusste nichts von den Schwierigkeiten, die noch vor mir lagen. Das Bild erinnert mich aber auch an den Fortschritt, den ich seitdem gemacht habe und an den Fortschritt, den mein Land hinter sich hat." Seit 16 Jahren ist Cyprien Angehöriger des Militärs in Ruanda. Der 33-Jährige arbeitet dort als Mechaniker.
Save the Children konnte Flodouard und seine Geschwister mit einem Onkel zusammenbringen. Er begann Geld zu sparen, um einen kleinen Bauernhof auf dem Land seiner Eltern zu errichten. Dort zog er seine jüngeren Geschwister auf. Jetzt ist Flodouard Kleinbauer und selbst Vater von drei kleinen Kindern. "Ich hoffe für meine Kinder, dass sie ein gutes Leben haben und niemals so etwas durchmachen müssen wie ich", sagt der 35-Jährige.
Gloriose, heute 25, ist die Schwester von Flodouard und Cyprien. "Als das Foto gemacht wurde, glaubte ich noch, dass alles gut werden würde, dass meine Eltern zurückkommen und mir ein glückliches Leben ermöglichen würden", sagt Gloriose. Heute studiert sie Pflanzenbauwissenschaft und Veterinärmedizin. "Mein Traum ist es, einmal so viel Geld zu verdienen, dass ich meinem Bruder Flodouard helfen kann, das Schulgeld seiner Kinder zu bezahlen. Mein älterer Bruder hat so viel für mich geopfert, damit ich eine Bildung genießen kann. Jetzt möchte ich das Gleiche für seine Kinder leisten."
In diesen Kisten lagert Save the Children die Unterlagen über die Waisen und Kriegsopfer. Von 1994 an bemühte sich die Organisation darum, ruandische Familien wieder zusammenzuführen.
Die Hilfsorganisation fertigte bei der Registrierung der Kriegsopfer Polaroid-Aufnahmen der Kinder an. Diese Bilder wurden dann in Gemeinden gezeigt, in der Hoffnung, dass die Jungen und Mädchen von Verwandten wiedererkannt werden.
Tausende Kinder konnten so wieder mit ihren Eltern, Geschwistern, Onkeln oder Tanten zusammengebracht werden. Diese Aufnahme hält einen dieser Moment fest.
Etwa 45 Prozent der von Save the Children registrierten Kinder, fanden ihre Angehörigen wieder.
Geoffrey Mugisha, Länderdirektor von Save the Children sagt: "Die Bilder sind wie Fenster, durch die wir Geschichten des Triumphs und des Überlebens sehen."
Melden Sie sich an und diskutieren Sie mit
Anmelden