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Rumäniendeutsche: Exodus der Siebenbürgener Sachsen

Foto: Till Mayer

Rumäniendeutsche Die letzten Sachsen von Kleinalisch

Die Familie kam im 14. Jahrhundert und überstand alle Zeitenwenden, Hitler, die Kommunisten, Ceausescu. Doch inzwischen sind Krestels die letzten in Kleinalisch, die sich noch zu den Siebenbürger Sachsen zählt. Alle anderen haben ihrem Leben in Armut und Rumänien den Rücken gekehrt.

Ausgerechnet am Altar haben sie sich vergriffen. Seit Jahrhunderten thront er in der Kirche von Kleinalisch. Ein barockes Kunstwerk mitten im schmucklosen Kirchenbau. Ein kleiner Lichtblick in "Gottes Reich". "Exakt seit 1763 steht er hier", schnauft Michael Krestel und lässt seinen Gehstock durch die kalte Winterluft kreisen. Hinter ihm reihen sich die leeren Kirchenbänke. Schlichte Holzgestelle ohne Rückenlehne. An den farblosen Fenstern dämpfen Staub und Spinnweben die Strahlen der Wintersonne.

"Selbst die Kommunisten haben ihn verschont. Fast 250 Jahre hat er ohne jeden Schaden zu nehmen überstanden", sagt der 81-Jährige. Dann stiegen vor wenigen Monaten Kunstdiebe in die Kirche ein. Kletterten über die Ringmauer, die das Gotteshaus umgibt. Brachen ein Fenster auf und rissen die gewundenen, korinthischen Säulen heraus. Strahlen der vergoldeten Sonne verschwanden und drei Engel. Kunstwerke, die einst der Bildschnitzer und Maler Georg Phillipi aus dem nahen Schäßburg gefertigt hatte.

Michael Krestel, der vor dem Altar getauft und konfirmiert wurde, der hier sein Eheversprechen gab, dem war es, als würde jemand ein Messer in sein Herz stoßen.

"Sie können sich vorstellen, wie stolz die Kleinalischer auf ihren Altar waren. So ein schöner und festlicher Altar, der stand kaum in einer anderen Dorfkirche", sagt der alte Mann.

Vor 81 Jahren wurde Michael Krestel hier ins Taufbecken gehoben - und er krähte durch das ganze Kirchenschiff, weil das Wasser so kalt war. So wie sein Vater als Neugeborener, und sein Großvater und sein Urgroßvater und alle Krestels bis in das 14. Jahrhundert zurück, als sie in Kleinalisch ankamen.

Heute nur noch zu siebt

Sie waren deutsche Siedler, die vor 800 Jahren von der Mosel kamen und mutig genug für einen Neuanfang waren. 1929, als Michael Krestel geboren wurde, lebten noch gut 750 Menschen in Kleinalisch, so gut wie alle evangelisch-sächsischen Glaubens. Heute sind sie noch zu siebt. Wenn es da den Taufstein, den Altar und die Kirche mit ihrem trutzigen Turm nicht geben würde: Vielleicht wären sie dann nicht einmal mehr sieben.

Die Krestels haben ihr Heimatdorf nicht verlassen. Nicht als im September 1944 viele Nachbarn ihre Habseligkeiten packten und im Treck vor der anrückenden Roten Armee flohen. "Wir sind keine Hitleristen, uns wird schon nichts passieren", sagte das Familienoberhaupt der Krestels. Der Rest war Gottvertrauen, dem harte Zeiten folgten.

Die Krestels blieben, als die Bundesrepublik zu Zeiten der Ceausescu-Diktatur Rumänien-Deutsche mit Kopfprämien freikaufte. Und sie blieben, als sich nach der Revolution Anfang der neunziger Jahre das Dorf plötzlich schlagartig leerte. Mehr und mehr Familien ihr Glück mit einem frisch ausgestellten deutschen Pass im Westen suchten. Bis irgendwann die Zahl der "Sachsen" im Dorf an zwei Händen abzuzählen war. Häuser leer standen und verfielen, in andere Rumänen und Roma einzogen.

"Egal ob Rumänen oder Roma, wir kommen gut mit unseren Nachbarn aus"

Kleinalisch heißt auf rumänisch Seleus, und das ist der Name, der heute für die rund 215 Dorfbewohner zählt. "Wir kommen gut aus mit unseren Nachbarn, egal ob das Rumänen oder Roma sind", sagt Hilda Krestel. Die 51-Jährige bewirtschaftet mit ihrem Vater sowie dem Bruder Michael den kleinen Hof. Kühe haben sie, zwei Pferde und sogar Büffel. Aus der Milch machen sie einen unverschämt guten Käse. Und der Büffel-Milch-Rahm, der heißt nur die "weiße Droge". "Jeder will ihn immer wieder essen, das ist wie eine Sucht", sagt der 49-jährige Michael und grinst. Die Krestels lachen in ihrer kleinen Wohnküche, in dem der Holzofen bullert.

Die Wohnküche ist der einzige Raum in der Bauernkate, der im Winter richtig warm ist. Hilda Krestel hat aufgetischt. Den Käse und Büffelrahm zum Probieren, danach gibt es Kuchen. Dazwischen erinnert der Vater an Zeiten, als der Tisch leer blieb. Erzählt von völliger Rechtlosigkeit, vom kommunistischen Präfekten, der die Kleinalischer nach Kriegsende drangsalierte. Davon wie die Siebenbürger Sachsen aus ihren Häusern vertrieben wurden, rumänische Arbeiter dort einzogen. Die deutschstämmigen Frauen im Alter zwischen 18 und 30 Jahren und die Männer zwischen 17 und 45 Jahren zur Zwangsarbeit in die kriegszerstörte Sowjetunion verschleppt wurden. "Zur Reparation. Manche kamen bis auf die Knochen abgemagert zurück, einige gar nicht", sagt der alte Bauer. Die grausame Quittung "Volksdeutsche" zu sein. Dann ist es kurz still in der Küche.

Michael Krestel war genau ein Jahr zu jung, um in der Sowjetunion zu schuften. Frondienst muss er später in der Heimat leisten. Er flieht immer wieder. Hinter ihm zischen die Kugeln. Jedes Mal wird er erwischt. Mit dem Gewehrkolben hämmern die Milizionäre zur Strafe auf ihn ein.

Wie die EU ihren Schatten über Kleinalisch warf

Die Todesangst auf der Flucht, der Willkür anderer völlig ausgeliefert zu sein: Der alte Mann hat das bis heute nicht überwunden. Stunden lang kann er davon erzählen. Dann fahren seine Hände durch die Luft, beschreiben nächtelange Fußmärsche. Heimliche Fahrten in Viehwaggons. Aber auch, wie er immer wieder an Menschen gerät, die ihm helfen. Polizisten und Funktionäre, die ihre Dienstvorschriften nicht allzu eng auslegen. Das hat ihn vor Bitterkeit bewahrt. "Wissen Sie, unsere alten rumänische Nachbarn waren eigentlich alle recht anständige Leute", sagt der 81-Jährige.

Mit der Kollektivierung und einem Richtungswechsel in der KP enden Mitte der fünfziger Jahre die Zeit der schlimmsten Schikanen. "Die Rumänen, die unsere Häuser übernommen hatten, verschwanden einer nach dem anderen. Es waren keine Bauern, Kleinalisch ganz und gar nicht ihre Welt. Wir hatten unsere Häuser wieder", so Michael Krestel. In der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft können die Sachsen ihren Vorsitzenden wählen. Sie haben kaum noch eigenen Grund und Boden, dafür aber wenigstens Rechte als Genossenschaftler. Doch in diesen Jahren ist viel für immer zerbrochen.

Die Genossenschaft ist Vergangenheit wie so vieles in Kleinalisch. Vater und Sohn führen zu den Ruinen der Kolchose. Verfallene Lagerhäuser, eine verrottete Dreschmaschine. Mitten auf dem Hof steht das Gerippe eines Kleinlasters. "Das war unser erstes Auto in der LPG. Mein Gott, was waren wir damals stolz", sagt der alte Mann und blickt auf das rostige Vehikel, als parkte dort noch immer der frisch lackierte Pritschenwagen. Die Krestels haben einen Stall der verblichenen Genossenschaft gekauft. Jetzt stehen darin ihre Kühe und Büffel sowie ein Pferdeschlitten vor der Tür. Mit dem bringen sie im Winter die Milch zum nächsten Sammelpunkt.

Kleinbauern wie die Krestels sind ein Anachronismus

Es sind Kleinstgewinne, die sie erwirtschaften. Die EU hat längst ihre Schatten über Kleinalisch geworfen. Kleinbauern wie die Krestels sind ein Anachronismus. Heute klagen die Krestels über Billigmilch aus Deutschland, die ihnen die Existenzgrundlage raubt. Über Dieselpreise, die sie sich nicht mehr leisten können. Die EU bedeutet unzählige neue Vorschriften: zum Einbau von Schleusen in Schlachträumen, penibelste Hygiene-Richtlinien bei der Käseproduktion... alles unerfüllbar. Durch die siebenbürgischen Dörfer rollen noch die Pferdekutschen der Bauern. In den Hängen sieht man Schafherden und Hirten mit verwegenen Fellmützen - romantische Zeitreisen für den Besucher aus dem Westen, Überlebenskampf der Einheimischen: Kaum einer erwirtschaftet so viel, dass er in seinen Betrieb investieren kann.

Die Krestels leben hauptsächlich von dem, was sie für sich selbst anbauen. Inklusive selbstgemachtem Wein, der mit eigenem Honig gesüßt ist. Von den Eiern und dem Fleisch ihrer Hühner.

Nimmt man nur das Einkommen der Krestels, sie müssten als arm gelten. Doch so würde sich die dreiköpfige Familie wohl selber niemals sehen. "Ich hab nie bereut, in Kleinalisch geblieben zu sein", sagt der Alte. Auch wenn ehemalige Dörfler aus Deutschland zu Besuch kommen, die sich in der neuen Heimat ein komfortables Leben aufgebaut haben. Zweimal war er selbst schon in der Bundesrepublik zu Besuch. "Jedes Mal wurde ich krank dabei. Ich habe eine richtige Allergie bekommen", sagt der Bauer lachend. "Zurück in der Heimat hab ich dann erst mal durchgeatmet."

Ungewohnte Exotik - Kleinalisch bekommt eine Pizzeria

Doch immer weniger Kleinbauern denken und fühlen so wie die Krestels. Sie versuchen ihr Glück in der Stadt. In leere Häuser ziehen jetzt nicht selten die, die sich auch in der Stadt wenig Chancen ausmalen: Roma. Hätten die Siebenbürger Sachsen nach der Wende nicht die Möglichkeit gehabt, in die Bundesrepublik auszuwandern: Viele würden spätestens jetzt ihre Höfe verlassen, weil die Perspektiven fehlen.

Bei all dem Verfall und Landflucht, Kleinalisch hat seinen Reiz behalten. Ein Grund, warum sich ein Bundesbürger vor nicht allzulanger Zeit einen Hof als Feriendomizil gekauft hat. Der steht jetzt frisch renoviert da. Sogar fließend warmes Wasser gibt es im Bad. Bis heute die Ausnahme in Kleinalisch.

"Der Jochen kommt mehrmals im Jahr zu Besuch. Ein feiner Kerl", sagt das Familienoberhaupt der Krestels. Eine italienische Familie hat sogar eine Pizzeria eröffnet. "Da soll das Essen sehr gut schmecken, sagt man auf jeden Fall", meint der 81-Jährige nicht ohne Stolz. Die Krestels haben das italienische Essen noch nie probiert. Eine Pizzeria, das ist eine völlig andere Welt. Nur manchmal fragen sie sich insgeheim, wer sich denn über die holprigen Straßen müht, um sich eine Pizza in Kleinalisch zu gönnen.

"In Hohndorf habe ich den letzten Sachsen beerdigt"

Bruno Fröhlich gehört zu denen, denen der Weg ins Dorf nicht zu weit ist. Gelegentlich hält der Stadtpfarrer aus dem pittoresken Schäßburg (Sighioara) einen Gottesdienst, oder Pfarrerin Agnes Körber und Pfarrer Joachim Lorenz kommen. So klettert Michael "Junior" fast jeden zweiten Sonntag die knarzenden Holzstufen des Kirchturms nach oben und läutet die alten Glocken. Seine Schwester Hilda eilt zum Altar. Auf schwarzen Samt ist dort in Gold "Gott ist Liebe" eingestickt. Darunter liegt für den Herrn Pfarrer das evangelische Gesangbuch, gedruckt zu Zeiten, als die Kirche die Gläubigen kaum fassen konnte.

Selbst mit allen Siebenbürger Sachsen aus den umliegenden Dörfern überblickt Pfarrer Fröhlich eine äußerst überschaubare Schar. "Im Nachbarort Hohndorf habe ich vergangenes Jahr den letzten Sachsen beerdigt. Das hat geschmerzt", sagt der Geistliche. In Hohndorf gibt es auch keine Familie wie die Krestels, die sich um das Gotteshaus kümmern. Und so zerfällt der Bau seit Jahren.

Michael Krestel Senior singt zum Abschied ein altes Heimatlied. Mit der hohen Stimme eines alten Mannes und doch ungewöhnlich festem Klang. Von schönen Mädchen erzählt er da und purpurnen Trauben. Hinter ihm sieht man an den Hügeln noch die alten Weinterrassen. Rebstöcke wachsen dort schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Und schöne Mädchen?

In der Kirche, oben in der Empore, wo einst die jungen Männer beim Gottesdienst standen, sind Löcher ins Holz gebohrt. Die Mädchen hatten ihren Auserwählten dort Blumen gesteckt. Der alte Mann weiß noch, wo das Sträußchen seiner Frau Platz fand.

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