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Moskau: Bürokratischer Irrsinn

Foto: ridus.ru

Russischer Blogger Warlamow Aufklärer an allen Fronten

Der erfolgreiche IT-Unternehmer Ilja Warlamow stellt im Nebenjob als Blogger unfähige russische Beamte an den Pranger. Jetzt betätigt er sich zudem als Ein-Mann-Nachrichtenagentur der Moskauer Protestbewegung und setzt sogar Mini-Drohnen zur Demo-Berichterstattung ein.

So viel Aufmerksamkeit sind Moskaus Beamte gar nicht gewohnt: Donnerstagabend werden ihnen zu Ehren rund dreihundert russische Intellektuelle im hippen Flacon Space zusammenkommen. Die ehemalige Kristallfabrik im Norden der Hauptstadt ist dann Schauplatz einer festlichen Gala. Verliehen wird der erste Moskauer Beamten-Award. Für die Gewinner aber ist die Auszeichnung wenig schmeichelhaft: Sie trägt den Namen Gläserner Bolzen.

"Das ist ein Preis für Beamten-Idiotismus", sagt Ilja Warlamow. Der junge IT-Unternehmer sitzt in einem Moskauer Bürogebäude, einem futuristischen Kubus aus Stahl und verspiegeltem Glas. Warlamows Firma programmiert am Computer aus Architektur-Entwürfen dreidimensionale Modelle. Das hat dem 27-Jährigen früh Geld gebracht, aber mit Wohlstand allein gibt sich Moskaus neue Mittelschicht nicht mehr zufrieden.

Russlands Bürger haben nur wenig Einflussmöglichkeiten auf Behörden und Beamte, die Staatsgelder für zweifelhafte Projekte verschwenden. Jungunternehmer setzen deshalb auf die Waffe Ironie. Auf seiner Web-Seite hat Warlamow, mit rund 30.000 Lesern auch einer der beliebtesten Blogger des Landes, den Gläsernen Bolzen ausgelobt und Fotos von den Kandidaten veröffentlicht.

Es ist ein Album des bürokratischen Irrsinns.

Als Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin etwa die Schaffung von 80.000 neuen Parkplätzen in der von Staus geplagten Hauptstadt anordnete, machten sich seine Untergebenen eilfertig ans Werk. Bald meldeten sie Planerfüllung: Sie hatten einfach auf Innenhöfen mit weißer Farbe zusätzliche Stellplätze aufgezeichnet. Ob die für Autos tatsächlich zu erreichen sind, war für die Statistik nebensächlich: Mal stört, wie man auf Warlamows Fotos sehen kann, ein Blumentopf die Zufahrt, mal ein Baum. Und manche Parklücke ist gerade einmal groß genug für einen Kinderwagen.

Eines Gläsernen Bolzen würdig erscheint auch das Bemühen der Stadtväter, ihre Stadt behindertenfreundlicher zu machen. Die Stadtregierung ließ eigens dafür Parkplätze ausweisen, die allerdings weder Menschen mit noch ohne Handicap erreichen können, weil sie von einem Zaun umgrenzt werden. Oder jene Moskauer Behörde, die den Auftrag bekam, ein Basketballfeld und einen Spielblatz zu bauen, beides dann aber so kombinierte, dass nun Klettergerüste den nagelneuen Basketballkorb versperren. "Vor zehn Jahren konnte man über so etwas nur lächeln und es hinnehmen", sagt Warlamow. Heute will er es ändern.

Aufklärung per Mini-Heli

Der Jungunternehmer gehört zu einer neuen Generation, die Missstände in ihrem Land nicht mehr hinnehmen will. Sie ist jung, internetaffin und trägt ihren Protest seit den Parlamentswahlen vor einer Woche ins Netz - und auf die Straße. Am vergangenen Samstag zogen 50.000 zum Moskauer Bolotnaja-Platz und demonstrierten für freie Wahlen.

Das neue Russland kämpft gegen das alte: Engagierte Jungaktivisten wie Warlamow gegen Beamte und Bürokratie, neue Internetmedien gegen das Staatsfernsehen.

Warlamow ist bei jeder Demonstration dabei. Der Jungunternehmer hält sich zwar mit Kritik an Präsident Medwedew und Regierungschef Putin zurück. Wenn die Opposition aber zu Demonstrationen ruft, schnappt er sich seine Nikon-Kamera und geht auf die Straße. "Die Kundgebungen der Kreml-Anhänger zeigt das Fernsehen doch hundertmal", sagt er. "Ich aber will den Menschen zeigen, was ihnen verschwiegen wird."

Warlamow ist während der Proteste zu einer Art Ein-Mann-Nachrichten-Agentur geworden. 62.000 Menschen folgen seinen Meldungen beim Kurznachrichtendienst Twitter. Jeden Tag werden es mehr.

Das Internet wird auch in Russland immer mehr zum Medium des Aufruhrs.

Als sich Zehntausende am Samstag auf dem Bolotnaja-Platz versammelt hatten, surrte ein kleiner Helikopter über ihren Köpfen. Die Drohne war mit einer kleinen Kamera ausgerüstet. Viele in der Menge befürchteten sie sei vom Inlandsgeheimdienst FSB. Doch sie kam von Warlamow.

Der Jungunternehmer hat eine eigene Nachrichten-Website gegründet. Sie heißt "Ridus.ru" und wird von 20 Mitarbeitern betreut. Nachrichten und Fotos aber kann hier jeder einreichen, die Mitarbeiter moderieren und verwalten nur die Seite. Warlamows Mini-Drohne übertrug ihre Aufnahmen auf "Ridus". Zudem schickten vier Mitarbeiter per iPhone Live-Bilder ins Internet. Insgesamt eine Million Menschen schauten so der Demonstration zu.

Ridus hat schon jetzt jeden Tag 300.000 Leser. "Es ist ein Medium der neuen Generation", sagt Warlamow. Vor allem Augenzeugen bestücken das Portal direkt mit Fotos und Nachrichten. Zeitungen und klassische Web-Seiten können da nach Ansicht von Warlamow Meinung nicht mithalten. "Der Leser vertraut stärker einem Augenzeugen, der schlecht schreibt, als einem professionellen Journalisten, der nicht vor Ort war", sagt er. "Ich glaube nur noch, was ich selbst gesehen habe."

"Slawischer Winter" nennen manche Kommentatoren die russischen Proteste in Anlehnung an den Arabischen Frühling. Doch das Land sei weit weg von einem Massenaufstand wie in Libyen oder Syrien, glaubt Warlamow. "Die Menschen auf der Straße wollen Veränderung, aber keine Revolution", sagt der Blogger. "Sie wollen der Staatsmacht aber zeigen, dass sie mit ihnen rechnen muss."

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