Neuer Ost-West-Konflikt Warum Putin mit Raketen droht

Russische Interkontinentalrakete bei Parade in Moskau (Archivbild): Mobilisierung der Gesellschaft
Foto: Ivan Sekretarev/ AP/dpaNur auf den ersten Blick stehen die beiden wichtigsten Russland-Nachrichten in diesen Tagen in keiner Verbindung zueinander. Russland rüstet seine Nuklearstreitkräfte mit 40 Interkontinentalraketen auf, hat Präsident Wladimir Putin verkündet. Fast zeitgleich wurde ein überraschend starker Einbruch der russischen Industrieproduktion von minus 2,3 Prozent in den ersten fünf Monaten 2015 bekannt, im Mai allein lag das Minus bei 5,5 Prozent.
Moskaus Raketenentscheidung ist mehr als nur der Gegenzug zur diskutierten Entsendung von 5000 US-Soldaten und schwerem Kriegsgerät nach Osteuropa. Sie muss auch im Kontext der Wirtschaftskrise gesehen werden, die in den nächsten Monaten massiv in Russland durchschlagen wird. Ohne Aussicht auf eine Verbesserung des politischen Klimas befindet sich das Land auf einer wirtschaftlichen Abwärtsspirale.
Putin hat sich gegen notwendige Reformen entschieden. Er hat stattdessen die Mobilisierung der Gesellschaft gewählt, um von seiner verfehlten Wirtschaftspolitik abzulenken. Die Grundmuster dieser Strategie waren bereits in den vergangenen Jahren erkennbar. Im Falle der Punkrockerinnen von Pussy Riot etwa statuierte der Kreml ein Exempel in einer Phase sinkender Zustimmungsraten für das Regime. Der Bevölkerung sollte so der negative Einfluss des angeblich dekadenten Westens vor Augen geführt und kreative Kritik an der Autorität Putins bestraft werden.
Putin gab sich als Verteidiger traditioneller Werte. Die Aufrüstung insbesondere der - für die Großmacht Russland symbolträchtigen - Nuklearstreitkräfte sind ein weiterer Baustein in diesem vom Kreml orchestrierten Konflikt mit dem Westen. Der eigentliche Adressat der Aufrüstung ist nicht in erster Linie das Ausland, sondern die eigene Bevölkerung. Sie wird darauf vorbereitet, bald Opfer bringen zu müssen.
Russlands innere Defizite
Der Schuldige für diese Krise ist in den Augen der Russen die EU mit ihrer Sanktionspolitik. Deren Verlängerung wurde gerade beschlossen, die Wirkung der Sanktionen aber hat nur in begrenztem Maß mit Russlands Abschwung zu tun. Als Feind werden die USA identifiziert, die scheinbar in der Ukraine ihre Spielchen spielen und sogar die Entsendung von Soldaten und Material nach Ostereuropa verfolgen.
Moskaus Antwort darauf war erwartbar: Putin kündigte neben dem Kauf neuer Raketen die Schaffung von zwei neuen Radarknotenpunkten im Westen und Osten des Landes an. Das Verteidigungsministerium will zudem neue atomwaffenfähige "Iskander"-Raketen in Kaliningrad an der EU-Grenze stationieren.
Während in der globalen Finanzkrise 2008/2009 Russlands Probleme vor allem von außen verursacht worden waren und mit massiven Staatshilfen gestoppt wurden, beobachten wir heute eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Entwicklung Russlands aufgrund innerer Strukturdefizite, verstärkt durch Sanktionen und den Einbruch des Ölpreises. Gleichzeitig fehlt dem russischen Staat Geld für eine massive Intervention, oder es wird ausgegeben, um die enormen öffentlichen Ausgaben zu stemmen.
Dabei geht es insbesondere um die Finanzierung loyaler Staatsbediensteter, deren Gehälter Putin in den vergangenen Jahren gezielt erhöht hat, und um die Modernisierung der Armee. Russland liegt bei den Militärausgaben - trotz Krise - international auf Rang drei, hinter den USA und China.
Was bedeutet das für Putin? In seinen ersten beiden Amtsperioden bis 2008 führte er ein Land mit starkem Wachstum. Seine Popularität rührte auch aus dem Kontrast zu den wirtschaftlich schlechten Neunzigerjahren. Jetzt muss er ein Land im ökonomischen Niedergang verwalten.
US-Truppen nach Osteuropa? Das spielt Putin in die Hände
Das stellte die Frage nach der Legitimität des Systems Putin neu - und führte direkt in die Ukrainekrise und dann in den Konflikt mit dem Westen. Sollten die USA aus dem russischen Säbelrasseln die Konsequenz ziehen, tatsächlich ihre osteuropäischen Partner aufzurüsten, hätte Moskau Washington kurioserweise genau dort, wo es die Kreml-Propaganda bereits seit Beginn der Krise wähnte: waffenstarrend an der Grenze zu Russland.
US-Präsident Barack Obama und die Nato würden Putin damit einen Dienst erweisen. Der Kreml würde das als Bestätigung seiner eigenen Propaganda verkaufen, die schon seit Jahren alle Schuld bei den Amerikanern sucht.
In Wahrheit hat die russische Führung kein Interesse, Nato-Mitglieder anzugreifen. Was sie braucht, ist der Effekt der Mobilisierung der Bürger gegen vermeintliche Feinde. Was bliebe denn, fiele die Bedrohung von Außen weg? Eine korrupte Elite, der jegliche Strategie zur Modernisierung des Landes fehlt. Gefährlich wird das Rüstungsspiel, wenn der Westen es mitspielt und somit in den Augen der Russen legitimiert.
Der Beschluss über die schnelle Nato-Eingreiftruppe war sinnvoll, zur Versicherung der Partner. Die Entsendung von Truppen nach Osteuropa aber würde eine neue Rüstungsspirale in Gang setzen, die selbst gefährlicher wäre, als die momentane Lage.

Stefan Meister, 40, ist Programmleiter Osteuropa und Zentralasien der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin.