Russland Was ist die klügste Wahl, wenn man keine Wahl hat?

Demonstrant bei einer Protestaktion in Moskau
Foto: Alexander Zemlianichenko/ APTaktisches Wählen gehört zur Demokratie wie das Lügen zur höflichen Konversation. Viele machen es, einige empfehlen es, und dennoch hat es einen schlechten Ruf. Am Ende lebt Demokratie doch davon, dass Wähler ihre Überzeugungen offenlegen.
Aber wie es ist in Ländern, die keine Demokratien sind, in denen Wahlen also unter unfreien Bedingungen stattfinden? Hat taktisches Wählen auch dort einen Sinn? Das ist eine Frage, die in Moskau gerade rege diskutiert wird.
An diesem Sonntag finden nämlich in Russland Regionalwahlen statt. In 16 der 85 Regionen wählen die Bürger ein neues Oberhaupt, in 13 ein neues Regionalparlament. Aber anders als in Deutschland ist ihre Auswahl streng begrenzt. Wie einst in der DDR, so gibt es auch in Russland zwar mehrere Parteien, aber keine echte Alternative. Denn alle offiziell registrierten Parteien werden letztlich vom Kreml kontrolliert. Wer sich offen gegen Präsident Wladimir Putin ausspricht (und nicht nur gegen die Regierung), der kommt gar nicht erst auf den Wahlzettel.
Nawalnys Strategie war schon erfolgreich. Oder doch nicht?
Auch in der Hauptstadt Moskau wird ein Regional-Parlament gewählt. Dort hat der Ausschluss unabhängiger Kandidaten zu Massenprotesten geführt, aber ohne Effekt. Zur Wahl stehen nur Kandidaten, die faktisch entweder von der Kreml-Partei "Einiges Russland" oder von der zahnlosen "systemischen Opposition" unterstützt werden (obwohl die Kreml-Partei ihre Unterstützung mittlerweile nicht offen zeigt, weil sie so unbeliebt ist).
In dieser Situation hat Oppositionspolitiker Alexej Nawalny das taktische Wählen zur Waffe der Wahl erklärt. "Kluges Wählen" nennt er es. Ziel der Kampagne ist, die Proteststimmen der Unzufriedenen so umzuverteilen, dass der Schaden für die Kreml-Partei maximiert wird. Natürlich stärkt das jene Opposition, die am Ende doch kreml-loyal ist - aber selbst das wäre schon eine Niederlage für den Kreml.

Alexej Nawalny: Taktisch Wählen
Foto: Tatyana Makeyeva/ REUTERSNun gibt es in den Moskauer Parlamentswahlen nur Direktmandate und nur einen einzigen Wahlgang. Protestwähler haben also keine Chance, in der Stichwahl den stärksten Opponenten aus dem ersten Wahlgang zu unterstützen. Eben dieses Problem wird auf der Webseite von "Kluges Wählen" (vote2019.appspot.com) behoben: Dort kann jeder Wähler seine Adresse eingeben und herausfinden, wer in seinem Wahlkreis die besten Chancen hat.
Vorsichtshalber hat Nawalny die Namen der Kandidaten, die er unterstützt, erst kurz vor der Wahl bekannt gegeben - damit diese Kandidaten nicht auch noch vom Wahlzettel gestrichen werden.
Das Projekt hat schon vor dem Wahltag eine verblüffend große Aufregung verursacht, und zwar sowohl bei den Behörden wie innerhalb der Opposition. Wie ernst die Führung das "Kluge Wählen" nimmt, das zeigt die Tatsache, dass sie am Donnerstag Nawalnys TV-Studio leerräumte, in dem er seine Wahlaufrufe für Youtube aufnimmt. Es gab Hackerattacken gegen die Webseite von "Kluges Wählen".
Der Ex-Oligarch findet das "unmoralisch"
Aber auch die "außersystemische" Opposition ist in Aufruhr, die kompromisslosen Kreml-Gegnern, für die in der Logik des Kreml kein Platz ist. Sie streiten über die Taktik. In 35 von 45 Moskauer Wahlkreisen unterstützt Nawalny nämlich Kandidaten der Kommunisten; die können wir nicht wählen, sagen liberale Putin-Gegner, darunter sind ja Stalin-Anhänger.
Michail Chodorkowski, Polit-Emigrant in London, nennt das taktische Wählen sogar schlechthin "unmoralisch". Die Zeit für strategische Spielchen sei vorbei. "Moralisch wählen" heißt für ihn: Für jene wenigen Kandidaten stimmen, die sich offen gegen die jüngsten Repressionen und für Verhaftete aussprechen, oder seinen Unwillen über die Repressionen direkt auf den Stimmzettel schreiben.

Michail Chodorkowski: Moralisch Wählen
Foto: Matt Dunham/ APAndere fragen: Wie wird man den Effekt des "Klugen Wählens" überhaupt messen? Und ist das taktische Wählen nicht schon 2011 gescheitert? Damals hatte Nawalny vor den Duma-Wahlen die Parole "Für alle Parteien außer 'Einiges Russland'" ausgegeben. Die meisten Proteststimmen gingen damals an die Retorten-Partei 'Gerechtes Russland' - die im Parlament dann vier Jahre lang brav die Linie des Kreml vertrat. Nawalnys Kritiker halten das für ein abschreckendes Beispiel. Nawalny ist anderer Meinung: Eben die zusätzlichen Proteststimmen gegen die Kreml-Partei hätten damals zu noch massiveren Fälschungen geführt, die wiederum neue Massenproteste ausgelöst hätten. Das sei auch ein Erfolg.
Das ist das Problem der simulierten Demokratie, wie sie unter Präsident Boris Jelzin entstanden und unter Wladimir Putin zum System erhoben wurde: Der Wähler hat wenig Handlungsspielraum. Nawalnys Rat ist: Du hast keine Chance, nutze sie! Die Alternative ist, zuhause zu bleiben - und dann ändert sich mit Sicherheit nichts. Bei den letzten Wahlen zum Moskauer Stadtparlament lag die Beteiligung bei gerade mal 21 Prozent.