Massenhaftes Tiersterben in Russlands Osten
Die Suche nach dem Gift auf Kamtschatka
Auf der russischen Halbinsel Kamtschatka wurden massenhaft tote Seeigel, Tintenfische und Robben angeschwemmt. Umweltschützer sprechen von einer Katastrophe. Der Druck auf die Behörden steigt.
Hunderte verendete Meerestiere wurden an der Küste Kamtschatkas angeschwemmt
Foto: Anna Strelchenko / imago images/ITAR-TASS
Als Wasilij Jablokow vor wenigen Tagen im Südosten von Kamtschatka in eine Bucht fährt, sieht er gelblichen Schaum auf dem Wasser treiben. Er und sein Team entdecken schließlich mehrere dieser großen Flecken, wie er es nennt. Der Geograph, 29 Jahre alt, arbeitet für die Umweltschutzorganisation Greenpeace.
Bis jetzt ist noch immer nicht klar, was im Ozean vor Kamtschatka passiert ist. Warum an Stränden der Halbinsel weiter nördlich an der Küste der Awatscha-Bucht so viele tote Seesterne, Oktopusse, Krabben, Fische und sogar Robben angeschwemmt wurden. Warum sich das Wasser an zahlreichen Stellen verfärbt hat und Blasen bildet.
Foto: Anna Strelchenko / ITAR-TASS / imago images
Fotostrecke
Tod vor Kamtschatka
Für Jablokow steht bereits jetzt fest: "Es ist eine ökologische Katastrophe, die sich hier ereignet." Ihn schmerze das sehr. Jablokow hat auf Kamtschatka gelebt, für den Nationalpark gearbeitet. Auch am Strand der nahegelegenen Regionalhauptstadt Petropawlowsk-Kamtschatskij hat er inzwischen zahlreiche verendete und violett verfärbte Seeigel ohne Stachel gefunden, erzählt er.
Raue Natur, Bären und Königskrabben
Die Halbinsel im Fernen Osten Russlands ist etwas größer als Deutschland. Sie war ein halbes Jahrhundert Militärsperrgebiet, ist berühmt für ihre beeindruckende, raue Natur: die Vulkane, Bären, Königskrabben, die vom schwarzen Sand bedeckten Strände.
Bis zu 95 Prozent aller Meeresorganismen seien allein in der Bucht zerstört, erklärten Mitarbeiter des Kronozkij-Naturreservats und Wissenschaftler des staatlichen Forschungsinstituts für Fischerei und Ozeanographie. Umweltschützer und Wissenschaftler vermuten Gift als Ursache für die Naturkatastrophe. Nur welches, das ist bislang unklar.
Naturschutzminister wiegelt ab
Behörden und politische Vertreter geben sich weiter bedeckt, lange beschwichtigten sie. Der Gouverneur der Region, Wladimir Solodow, warnte zwar vor dem Besuch der Strände. Er schrieb aber noch Anfang der Woche auf Instagram, dass sich die Lage normalisiere, da der Ozean über die "einzigartige Fähigkeit der Selbstregenerierung" verfüge.
Zynisch fand manch einer auf der Halbinsel die Äußerungen des russischen Naturschutzministers Dmitrij Kabylkin, der erst einmal abwiegelte. Von einer Katastrophe könne nicht gesprochen werden, erklärte er: "Es ist niemand getötet, verletzt worden." Dabei hatte Kabylkin mit Surfern gesprochen, deren Augen behandelt werden mussten, weil sie nach Kontakt mit dem Meerwasser sehr stark gereizt waren. Surfer waren es auch, die Mitte September als erste die Veränderungen des Meeres bemerkten.
"Einige haben noch immer Probleme mit den Augen und der Haut"
Kamtschatkas Küste ist beliebt bei Surfern. Sie kommen aus dem achteinhalb Flugstunden entfernten Moskau, um Wochen, manchmal Monate auf dem Wasser und an den Stränden zu verbringen. Wie so viele erlebte auch Jekaterina Dyba, dass sie nach dem Surfen im Wasser nicht mehr richtig sehen konnte. Die 30-Jährige, die für eine Surfschule am Chalaktyskij-Strand in der Nähe der Regionalhauptstadt arbeitet, berichtet von einem weißen Schleier auf den Augen, Tropfen halfen nicht.
Einige Tage nach dem ersten Kontakt mit dem Wasser sei ihr übel gewesen, sie habe Halsschmerzen und Fieber bekommen, sei sehr schwach gewesen. Allein in ihrer Surfschule seien mehr als 100 Surfer betroffen gewesen. Viele hätten sich selbst versorgt.
"Bei mir ist alles wieder gut, aber einige haben noch immer Probleme mit den Augen und der Haut", sagt Dyba. Inzwischen hat ihre Surfschule den Betrieb eingestellt, sie selbst befindet sich in Petropawlowsk-Kamtschatskij. "Wir wissen einfach nicht, wie groß das Risiko ist, weiter in das Wasser zu gehen." Dyba sagt, sie wisse nicht, was sie glauben solle. "Ich bin einfach sehr müde. Alle warten auf die Ergebnisse der unabhängigen Untersuchungen", sagt sie.
Sie meint damit die Proben, die Greenpeace und Wissenschaftler seit Tagen an verschiedenen Stellen gesammelt haben. Sie werden nun in Moskau und in Wladiwostok untersucht.
Bisher hat das staatliche Ermittlungskomitee nur von Schadstoffen berichtet, die in ihrer Beschaffenheit Industrieölen ähneln. Die Behörden gehen offiziell von drei möglichen Szenarien aus:
Menschen sind für die Verschmutzung des Meeres verantwortlich,
oder giftige Algen, die nach Stürmen an die Küsten Kamtschatkas geschwemmt wurden,
oder Erdbeben.
Wladimir Rakow lacht am Telefon, als er das hört. "Jetzt sind also die Vulkane schuld, dazu müsste es Daten von Erdbeben geben", sagt er. Die aber liegen nicht vor, darauf haben bereits Vulkan-Experten hingewiesen. Rakow ist Biologe und Chefspezialist des Labors für maritime Ökotoxikologie am Institut für Pazifische Ozeanologie in Wladiwostok. Kollegen von ihm sind auf Kamtschatka im Einsatz. Sie nehmen auch Proben von Tieren.
Giftige Mikroalgen seien in den kalten Gewässern Kamtschatkas extrem selten, sagt Rakow. Die Verschmutzung sei höchstwahrscheinlich durch ein Gift verursacht worden - das aber nach fast drei Wochen genauer zu bestimmen, werde nicht einfach. "Es fehlt hier in der Region an einem Monitoring-System, das sofort Alarm schlägt, wenn es im Meer Veränderungen gibt, sodass wir reagieren können", sagt Rakow.
Tonnen von Arsen und Raketentreibstoff
Inzwischen ist auch das Militärgelände auf Kamtschatka untersucht worden. Dort lagern in der Koselskij-Deponie seit Sowjetzeiten hundert Tonnen Pestizide, mindestens 20 Tonnen Arsen. Auf dem Testgelände von Radygino, wenige Kilometer vom Strand entfernt, sollen nach Medienberichten 30 Tonnen Raketentreibstoff gebunkert sein.
Auch das Greenpeace-Team hat an den Flüssen und Bächen, die in den Pazifik fließen, Proben entnommen. Auf der Koselskij-Deponie seien keine Verstöße zu erkennen gewesen, sagen mehrere Gesprächspartner. Doch was mit dem Grundwasser dort sei, das wisse niemand, so Greenpeace-Mann Jablokow.
Greenpeace-Mitarbeiter Wasilij Jablokow
Foto: Matvey Paramoshin / Greenpeace
Der Druck auf die staatlichen Stellen ist inzwischen enorm: Der Kreml hat sich zu Wort gemeldet und der Gouverneur damit gedroht, Beamte zu entlassen, falls sie versuchen würden, die Lage zu beschönigen. Eine Karte wurde veröffentlicht, wo welche Wasserproben mit welchem Ergebnis entnommen wurden. Es laufen Strafermittlungen. Auch Vertreter des Moskauer Ermittlungskomitees, das dem Präsidenten unterstellt ist, sind vor Ort.
Der Gouverneur will sich nun auch um die Deponien kümmern, die seit Jahren sich selbst überlassen sind. Zumindest hat er das versprochen. "Ein erster kleiner Sieg", findet Surferin Dyba.