Alexej Nawalnys Schlusswort vor Gericht »Einen einsperren, um Millionen einzuschüchtern«

Alexej Nawalny im Moskauer Stadtgericht am 2. Februar
Foto: Moscow City Court press service / AFPAlexej Nawalny muss für längere Zeit ins Gefängnis. Ein Moskauer Gericht hat am Dienstag entschieden, dass der Oppositionspolitiker eine ursprünglich zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe doch noch antreten müsse. Die Begründung: Der Kremlkritiker habe gegen Bewährungsauflagen verstoßen. Nach Anrechnung eines Hausarrestes soll er nun für zwei Jahre und acht Monate eingesperrt werden. Nawalny legte Berufung gegen das Urteil ein.
Die neue Entscheidung bezieht sich auf ein Gerichtsurteil von 2014 in der Strafsache »Yves Rocher«. Damals befand ein Gericht, dass eine Nawalny und seinem Bruder Oleg gehörende Kurierfirma das Kosmetik-Unternehmen betrogen habe. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nannte das Urteil später »willkürlich und deutlich rechtswidrig«.
Der SPIEGEL dokumentiert Nawalnys Schlussworte im Gerichtssaal in Zusammenarbeit mit der unabhängigen Internetplattform »dekoder«. Lesen Sie hier seine Erklärung im Wortlaut:
Ich würde gern mit der juristischen Frage beginnen, die mir am wichtigsten erscheint und die bei dieser Anhörung bisher irgendwie übersehen wurde. Denn das alles wirkt ein bisschen merkwürdig, oder? Also da sitzen zwei. Der eine meint: »Ach, lass uns Nawalny dafür einbuchten, dass er nicht montags, sondern donnerstags (zur Bewährungsstelle) gekommen ist.« Der andere meint: »Ach, lass uns Nawalny dafür einbuchten, dass er, nachdem er aus dem Koma erwacht ist, nicht sofort hergekommen ist und sich gemeldet hat.« Und dann läuft die Anhörung, alle reden über Montage, Donnerstage, wann und wohin man welche Papiere schicken muss und so weiter.
Aber ich möchte ein paar Worte über den kleinen Elefanten hier im Raum sagen. Man will mich in einem Fall hinter Gitter bringen, in dem ich schon für unschuldig befunden wurde. Ein Fall, der schon als konstruiert anerkannt wurde. Das ist nicht meine persönliche Meinung: Wir können jedes beliebige Lehrbuch für Strafrecht aufschlagen – ich hoffe, euer Ehren, dass Sie das einige Male in Ihrem Leben gemacht haben – und werden sehen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Teil des russischen Rechtssystems ist, unter anderem, weil Russland Mitglied des Europarats ist. Es gibt bindende Entscheidungen. Und ich habe, nachdem ich den ganzen Prozess durchlaufen habe, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) angerufen. Und der EGMR hat eine Entscheidung gefällt, in der schwarz auf weiß geschrieben steht, dass nicht mal ein Straftatbestand vorliegt.
Mehr noch, die Russische Föderation hat diese Entscheidung sogar halbwegs anerkannt – man hat mir eine Entschädigung gezahlt und damit die Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anerkannt. Nichtsdestotrotz hat mein Bruder für diese Sache dreieinhalb Jahre im Gefängnis gesessen, und ich stand ein Jahr unter Hausarrest.
Ein wenig Mathematik: 2014 wurde ich verurteilt und bekam dreieinhalb Jahre. Jetzt haben wir das Jahr 2021, und trotzdem macht man mir weiterhin den Prozess in dieser Sache. Dabei wurde ich bereits für unschuldig erklärt, ein Straftatbestand liegt nicht vor, und dennoch: Mit der Verbissenheit eines Irren fordert unser Staat, mich wegen dieser Strafsache ins Gefängnis zu bringen.
Aber warum ausgerechnet in dieser Sache? Es gibt ja sicherlich keinen Mangel an Strafverfahren gegen mich, oder? Erst kürzlich wurde noch ein weiteres eingeleitet. Nichtsdestotrotz wollte jemand, dass ich bei meiner Rückkehr nicht einen einzigen Schritt als freier Mensch in das Staatsgebiet unseres Landes mache. Von dem Moment an, als ich die Grenze überschritt (Anm. d. Redaktion – am 17. Januar kehrte Nawalny nach einer monatelangen Behandlung infolge einer Vergiftung mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok nach Moskau zurück), war ich ein Gefangener. Wir wissen, weshalb das passierte. Der Grund für all das sind der Hass und die Angst eines einzelnen Menschen, der im Bunker lebt. Weil ich ihn zutiefst gekränkt habe, indem ich überlebte, nachdem man versucht hatte, mich auf seinen Befehl hin umzubringen.
Ich habe ihn zutiefst gekränkt, indem ich überlebte, dank guter Menschen – Piloten und Ärzte. Und dann habe ich ihn noch mehr gekränkt, weil ich mich, nachdem ich überlebt hatte, nicht versteckte, nicht unter Personenschutz in einem etwas kleineren Bunker lebte, den ich mir hätte leisten können. Und danach wurde es ganz schlimm.
Nicht nur, dass ich überlebt hatte, nicht nur, dass ich keine Angst hatte und mich nicht versteckte – ich habe auch noch an den Recherchen bezüglich meiner eigenen Vergiftung mitgearbeitet. Und wir haben gezeigt und bewiesen, dass es Putin war, mittels des FSB, der diesen Mordversuch durchgeführt hat. Und ich war nicht der Einzige. Und jetzt wissen es die Menschen und werden noch viel mehr erfahren. Und genau das macht dieses kleine diebische Menschlein in seinem Bunker verrückt. Genau diese Tatsache – dass alles rauskam, verstehen Sie?
Da ist nichts mit hohen Umfragewerten oder gewaltiger Unterstützung. Nichts dergleichen. Weil klar wurde: Um mit einem politischen Gegner fertig zu werden, der weder das Fernsehen noch eine politische Partei hinter sich hat, muss man einfach versuchen ihn mit einem chemischen Kampfstoff umzubringen. Und natürlich wird Putin da verrückt. Weil sich alle davon überzeugen konnten, dass er einfach ein kleiner Beamter ist. Den man zufälligerweise auf den Posten des Präsidenten gestellt hat. Der weder an Debatten noch an Wahlen teilgenommen hat. Und dessen einzige Kampfmethode der Versuch ist Menschen zu töten. Und wie sehr er sich auch als großartiger Geopolitiker, als Führer von Weltrang gibt, seine schlimmste Kränkung durch mich ist, dass er als Giftmörder in die Geschichte eingehen wird.
Wissen Sie, es gab Alexander den Befreier, es gab Jaroslaw den Weisen. Und nun kommt Wladimir der Unterhosenvergifter. So wird er in die Geschichte eingehen.
Ich stehe hier, bewacht von der Polizei, die russische Nationalgarde ist aufmarschiert, halb Moskau ist abgesperrt aus dem einzigen Grund, dass ein kleiner Mann im Bunker durchdreht. Weil wir bewiesen und gezeigt haben, dass er sich nicht mit Geopolitik beschäftigt, sondern Beratungen dazu abhält, dass man politischen Opponenten die Unterhosen klaut, ihnen die Unterhosen mit chemischen Kampfstoffen einschmiert und sie damit zu töten versucht.
Das Wesentliche an diesem Prozess ist gar nicht, wie er für mich endet. Mich einzusperren ist keine Kunst, ob nun in diesem oder einem anderen Verfahren. Das Wesentliche ist, wozu das passiert – um eine riesige Zahl Menschen einzuschüchern. So funktioniert das nämlich: Einen einsperren, um Millionen einzuschüchtern.
In Russland leben 20 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Und Dutzende Millionen leben ohne die geringste Perspektive. In Moskau lässt es sich noch mehr oder weniger leben. Aber sobald man 100 Kilometer rausfährt, trifft man auf absoluten Stillstand. Unser ganzes Land lebt in diesem absoluten Stillstand, ohne jegliche Perspektive. Von 20.000 Rubel (Anm. d. Redaktion – etwa 220 Euro). Und alle schweigen sie, man versucht ihnen das Maul zu stopfen mit genau solchen Schauprozessen.
Ich hoffe sehr, dass die Leute diesen Prozess nicht als Signal auffassen dafür, dass sie noch mehr Angst haben müssen. All das - die Nationalgarde, dieser Käfig - ist eine Demonstration der Schwäche. Millionen und Hunderttausende kann man nicht einsperren. Und ich hoffe sehr, dass die Leute sich dessen mehr und mehr bewusst werden. Und wenn sie sich dessen bewusst geworden sind – und dieser Moment wird kommen – dann wird das alles in sich zusammenfallen. Denn Sie werden nicht das ganze Land einsperren.
All die Menschen, denen Sie die Perspektiven und die Zukunft genommen haben, leben in einem extrem reichen Land und bekommen Null ab von den nationalen Reichtümern. Wir wachsen nur, was die Anzahl der Milliardäre angeht, alles andere schrumpft. Ich sitze in meiner Zelle und höre Reportagen darüber, dass die Butter teurer geworden ist, dass Nudeln teurer geworden sind, dass Eier teurer geworden sind. Es ist das Jahr 2021, das Land exportiert Öl und Gas, und trotzdem redet das ganze Land davon, dass Nudeln teurer geworden sind, dass es zum Leben nicht mehr reicht!
Es kommt vor, dass Gesetzlosigkeit und Willkür das Wesen eines politischen Systems ausmachen. Und das ist schlimm. Aber es gibt noch etwas Schlimmeres: wenn Gesetzlosigkeit und Willkür sich in die Uniform des Staatsanwalts oder die Robe des Richters hüllen. Dann ist es die Pflicht eines jeden Menschen, sich weder Ihnen noch solchen Gesetzen zu unterwerfen.
Ich kämpfe, wie ich nur kann. Und ich werde das weiter tun, auch wenn ich völlig unter der Kontrolle derer stehe, die leidenschaftlich gern alles mit chemischen Kampfstoffen einreiben. Mein Leben ist wohl keine drei Kopeken mehr wert. Und trotzdem rufe ich alle dazu auf, keine Angst zu haben und alles zu tun, damit das Gesetz siegt, und nicht jene, die sich mit Uniformen und Richterroben kostümiert haben.
Ich grüße und danke allen Mitarbeitern des Fonds für Korruptionsbekämpfung, die derzeit unter Arrest stehen. Und allen im ganzen Land, die keine Angst haben und auf die Straße gehen, denn sie haben die gleichen Rechte wie Sie. Unser Land gehört denen genauso wie Ihnen und allen anderen. Wir sind ebensolche Bürger. Und wir fordern eine ordentliche Rechtsprechung, eine ordentliche Behandlung, Teilnahme an Wahlen und an der Verteilung der nationalen Reichtümer.
In Russland gibt es derzeit vieles, was gut ist. Aber das Beste sind jene Menschen, die keine Angst haben, die nicht den Blick senken und den Tisch anstarren. Die niemals unser Land einem Häuflein käuflicher Beamter überlassen werden, das unsere Heimat gegen Paläste, Weingüter und Aqua-Discos eintauschen will.
Ich fordere die sofortige Freilassung für mich und alle anderen Inhaftierten. Ich erkenne Ihre Vorstellung nicht an – sie ist völlig verlogen und entspricht nicht dem Gesetz. Ich fordere die sofortige Freilassung. Danke!
Die gekürzte Übersetzung der Redaktion von dekoder basiert auf der Protokollierung des unabhängigen Internetportals Meduza. Wir haben sie an einigen Stellen ergänzt und korrigiert, angelehnt an die Tonaufnahme seiner Rede.