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Anti-Protest-Song in Russland "Kleiner, misch dich nicht in die Politik ein"

Alisa Vox ist ziemlich laut - damit Russlands Jugend still bleibt. Im neuen Video wettert die Sängerin im Glitzerfummel gegen die Teilnahme an Demos. Hat der Kreml den Clip in Auftrag gegeben?

Über vier Minuten ist die Belehrung von Alisa Vox lang. Mal tritt die 29-jährige Sängerin im strengen Kostüm auf, die blonden Haare hochgesteckt, mal baut sie sich mit offener Mähne, im Glitzerjäckchen und kurzen Shorts mit erhobenem Zeigefinger vor einem Schüler auf. "Es ist nie zu spät, aus Fehlern zu lernen", singt sie dazu in ihrem Musikvideo.

Fehler - für Vox ist das die Teilnahme an Protesten in Russland.

Ende März gingen Tausende, darunter viele junge Menschen, Schüler und Studenten, in 83 Städten des Landes auf die Straße, um gegen Korruption zu demonstrieren. Für den Kreml kam das überraschend, galt doch die Generation, die Russland nur unter Führung von Wladimir Putin kennt, oft als unpolitisch. Ein Trugschluss: Nach einer neuen Studie des Zentrums für wirtschaftliche und politische Reformen sind nach wie vor 40 Prozent der befragten 14- bis 30-Jährigen bereit, an Protestaktionen teilzunehmen oder sie zu unterstützen (Lesen Sie hier mehr über die Hintergründe).

Fotostrecke

Massenproteste in Russland: Das Volk begehrt auf

Foto: Denis Tyrin/ dpa

Für den 12. Juni, dem Tag Russlands, hat Alexej Nawalny, der selbsternannte Präsidentschaftskandidat, zu neuen Versammlungen aufgerufen. In 193 Städten soll dann protestiert werden. In Protestgruppen in VKontakte, dem russischen Facebook, und Kanälen auf der App Telegram organisieren sich die jungen Leute bereits.

Sie schreckt es nicht, dass viele der festgenommenen Demonstranten im März inzwischen zu Geldstrafen verurteilt wurden, andere Besuch von der Polizei bekamen. Auch Versuche von Lehrern und Professoren, Schüler und Studenten zu maßregeln, die Nawalny unterstützen, haben bisher eher für Empörung gesorgt. Mitschnitte solcher patriotischer Erziehungsversuche wie der Ende März in Tomsk, wo ein Lehrer gegen den Liberalismus wettert und seine Studenten als "Faschisten" und "nationale Verräter" beschimpft , wurden hunderttausendfach in den sozialen Medien geteilt.

Nur Hampelmänner?

Der neueste Musikclip der russischen Sängerin Vox  (Titel: "Kleiner") ist nun ein neuer Versuch, Stimmung gegen Proteste zu machen - und dabei möglichst unpolitisch zu wirken.

Vox war bis zum vergangenen Jahr Mitglied der bekannten Band Leningrad, dann warf Gründer Sergej Schnurow sie raus. Zu viele Starallüren, begründete er die Entscheidung, was Vox bestreitet. Sie habe sich entschieden, die Gruppe zu verlassen. Nun jedenfalls tritt Vox allein auf und versucht es mit einer Anti-Protesthymne, die nicht nur Schnurow kritisiert.

Screenshot aus dem Musikvideo von Alisa Vox

Screenshot aus dem Musikvideo von Alisa Vox

Foto: Youtube/ Alisa Vox

Zu eingängigen Rockpop-Rhythmen ruft die Sängerin dazu auf, sich rauszuhalten aus der Politik. Sie mokiert sich über einen jungen Mann, der an den Protesten teilgenommen hat: "Er ist nur ein Hampelmann". Der Schüler beherrsche nicht einmal die Rechtschreibung und sei in der Geschichtsprüfung durchgefallen, seine Augen aber glühten vor Wut, singt Vox. Im Refrain heißt es:

"Wenn dein Herz so für Wandel brennt, dann muss der Wandel bei dir beginnen."

Und weiter verspricht Vox:

"Freiheit und Geld und Mädchen - all das wirst du haben, wohl auch Macht! Kleiner, versuch nicht, in der Politik mitzumischen."

"Die Freiheit ist nicht frei von Fehlern"

Mehr als 1,5 Million Mal wurde Vox' Beitrag bei YouTube bereits geklickt. Kommentieren kann man ihn allerdings nicht, die Sängerin hat die Funktion gesperrt. Was wohl auch daran liegen mag, dass die Reaktionen in den sozialen Netzwerken sehr negativ sind.

"Totaler Blödsinn" ist dabei noch einer der milderen Kommentare. Viele sind empört darüber, dass Vox den jungen Menschen jegliche Fähigkeit der eigenen Meinungsbildung und -äußerung abspricht. Schnurow antwortet der ehemaligen Kollegin gar in Gedichtform: "Die Freiheit ist nicht frei von Fehlern, die Kleinen sind aber keine Dummen."

Kam der Auftrag aus dem Kreml?

Vox betonte im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE, sie habe sich den Song allein ausgedacht, er sei, wie sie sagt, nicht politisch, sondern vielmehr "ironisch" gemeint. Ihr ginge es darum, zu zeigen, dass man "erst einmal Ordnung in seinem Leben schaffen und etwas erreichen muss", eine Ausbildung, ein Studium, um Verantwortung zu tragen und seine bürgerliche Haltung vernünftig präsentieren zu können.

Ob es denn ein Fehler sei, an Demonstrationen von Nawalny teilzunehmen? Auf diese Frage wollte Vox nicht antworten. "Das ist ja Politik." Es gehört wohl zu den russischen Absurditäten, angeblich unpolitisch und politisch zugleich sein zu können.

An Vox' Version gibt es inzwischen erhebliche Zweifel. Zwar können patriotische Projekte in Russland durchaus die Karriere fördern, aber es mehren sich die Anzeichen, dass der Musikclip ein Auftrag von Kreml-nahen Kreisen war.

Woher stammt das Geld?

Zwei kritische russische Medien, "Meduza" und "Doschd"; berichten, mit Verweis auf unterschiedliche Quellen, dass dem Kreml nahestehende Personen Vox und den Musikern zwei Millionen Rubel (rund 32.000 Euro) bezahlt haben sollen. "Doschd" benennt sogar einen ehemaligen Mitarbeiter der Kreml-Verwaltung, der auch bei der Kreml-treuen russischen Jugendbewegung Naschi aktiv war. Er soll unter anderem an dem Song-Projekt beteiligt gewesen sein.

Nawalny hatte zuvor bereits in seinem Blog geschrieben  , dass der Kreml den Song selbst in Auftrag gegeben haben könne. Er weist darauf hin, dass vor Kurzem bereits ein Song eines Rappers namens Ptacha erschienen ist, in dem unter anderem von "Bonzenkindern" die Rede ist, die auf die Lampen klettern. Am 26. März waren in Moskau Teilnehmer der Proteste unter anderem auf Lichtmasten geklettert und von Polizisten wieder heruntergeholt worden.

Mögliche Verbindungen zum Kreml hatte Vox zuvor noch als reine "Verschwörungstheorie" abgetan. "In diesem Land unterstütze ich keine politische Seite", behauptete sie. Ihr Sprecher nannte die Berichte am Donnerstag "Quatsch".

Wer Vox' Musikclip produziert hat und woher das Geld dafür stammt, wollte er allerdings nicht sagen.

Mitarbeit: Tatiana Chuklomina
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