Besuch bei einer Moskauer Mittelschichtsfamilie "Wahlen sind eine recht traurige Zeit"

Familie Osnos-Anistratenko in ihrer Küche in Moskau: Sohn Filipp (v.l.), Mutter Asja, Vater Konstantin, Tochter Arina
Foto: Christina Hebel/ SPIEGEL ONLINEErst einmal was essen. Konstantin Osnos ist gerade nach Hause gekommen, er lässt sich auf einen der Klappstühle fallen. "Uff, was für ein Tag, heute war viel los bei der Arbeit". Der IT-Mitarbeiter einer russischen Bank schiebt sich eine Gabel gedünsteten Kohl in den Mund.
Es ist kurz nach 20 Uhr in der Küche der Familie Osnos-Anistratenko. Sie hat in ihre etwas in die Jahre gekommene Dreizimmerwohnung nahe der Metrostation Pionerskaja im Westen Moskaus eingeladen. Die Wohnung befindet sich in einem der typischen fünfgeschossigen Gebäude. Sohn Filipp, 7, und Tochter Arina, 13, wohnen je in einem Raum, das Ehepaar im dritten, die zwei Katzen Misi und Shakespeare mal hier, mal dort. Die Familie trifft sich am Ende des Tages in der engen Küche.
Es ist warm in dem kleinen Raum, der Ofen noch an. Mutter Asja Anistratenko, 43, backt Apfelkuchen für den Besuch. Sie ist Englisch-Übersetzerin und muss schnell etwas fertig schreiben, dann kommt auch sie in die Küche, gibt ihrem Sohn eine Portion Kohl und schenkt, wie es sich in Russland gehört, den Gästen Tee ein.
Die Osnos-Anistratenkos finden, es gebe einiges vor dem Wahlsonntag zu bereden. Sie sorgen sich um ihr Land, das nun seit 20 Jahren von Präsident Wladimir Putin regiert wird - und in dem Abstimmungen eigentlich nur der Bestätigung des Machtsystems dienen. Am Sonntag wird in Dutzenden Landesteilen gewählt - ein Stimmungstest für den Kreml, vor allem nach dem Moskauer Protestsommer.

Konstantin Osnos, Asja Anistratenko mit Katze Misi und Tochter Arina
Foto: Christina Hebel/ SPIEGEL ONLINEAn fast jedem Wochenende versammelten sich Tausende im Zentrum. Einmal waren es rund 60.000 Menschen, die die Zulassung von Oppositionskandidaten zur Wahl des Stadtparlaments forderten. Die Menschen protestierten auch gegen die Willkür der Sicherheitskräfte, die mit Schlagstöcken gegen Demonstranten vorgingen, Hunderte in die Gefängnistransporter zerrten, einige am Ende mit absurden Verfahren überzogen. Inzwischen wurden sechs meist junge Männer zu hohen Haftstrafen verurteilt, zuletzt bekam einer vier Jahre Gefängnis, weil er wiederholt an Protesten teilgenommen hatte.
Das Staatsfernsehen versucht, den Russen weiszumachen, dass die Proteste vom Westen gesteuert würden. Asja und Konstantin winken ab. "Ach ja", sagt Konstantin, 51, er kaut auf seinem Kohl. "Das Übliche". Asja verdreht die Augen, ihr Vater glaubt solche Erzählungen.
Die Familie
In der Wohnung von Asja und Konstantin gibt es keinen Fernseher, nur einen Computer auf dem Tisch in der Küche, auf dem sie online Filme und Nachrichten vor allem kremlkritischer Medien wie Echo Moskwy oder "Meduza" verfolgen. Als liberal bezeichnen sich Mutter und Vater, der Staat habe den Bürgern zu dienen und nicht den wenigen, die sich bereichern, so formuliert es Asja.
Die Osnos-Anistratenkos sind, wenn man so will, eine der typischen Mittelschichtsfamilien der Hauptstadt: Sie sind gebildet, fahren gern in den Westen, verdienen ehrlich gutes Geld. Im Monat kommt das Paar auf rund 350.000 Rubel, etwa 4700 Euro. Der Durchschnittslohn liegt in Russland bei rund 580 Euro.

Katze Shakespeare auf dem Schoß von Asja
Foto: Christina Hebel/ SPIEGEL ONLINERichtige Moskauer sind Asja und Konstantin allerdings nicht, sie sind in Sankt Petersburg bei ihren Eltern gemeldet, wie es noch oft in Russland vorkommt. Das Meldewesen ist nach wie vor mit großem bürokratischen Aufwand verbunden, den man lieber vermeidet. Das Paar wählt am Sonntag deshalb in Petersburg, neben Moskau die zweite große Metropole Russlands - vor drei Jahren ist die Familie von dort weggezogen.
Die Wahlen
Die wichtigste Frage zuerst: Soll man überhaupt wählen gehen?
Tochter Arina sagt: "Nein". Es werde doch eh wieder gefälscht. Für ihre 13 Jahre hat sie viel gelesen über die Lage im Land.

Tochter Arina Anistratenko: "Papa, lass uns zur Demonstration gehen"
Foto: Christina Hebel/ SPIEGEL ONLINEIhr Vater entgegnet lächelnd: "Doch es macht Sinn, ich gehe schließlich wählen." Es ist seine Art von Humor, mit der Lage umzugehen. Er ist extra am Samstag mit dem Zug nach Petersburg gefahren: "Ich gehe eigentlich jedes Mal abstimmen, wie ein Hornochse. Weiß ich doch, dass am Ende die Kremlkandidaten gewinnen. Wie oft habe ich schon meinen Wahlzettel ungültig gemacht."
Dieses Mal werde er abstimmen, natürlich nicht für den amtierenden Gouverneur (was in etwa dem Rang eines Regierungschefs eines Bundeslandes in Deutschland entspricht - d. Red.), sondern für einen der Konkurrenten von Alexander Beglow. Bei der Lokalwahl wird er für den Kandidaten votieren, der die meisten Chancen hat, gegen den Bewerber der Regierungspartei zu gewinnen. "Eine reine Vernunftentscheidung, fällt mir nicht leicht", sagt Konstantin. Seine Hoffnung: "Ich glaube, sehr langsam kann sich etwas ändern, wenn in die Stadtvertretungen zumindest auch einige Oppositionelle einziehen und die aufmischen."
Mutter Asja findet, ihr Mann sei ein Philosoph, ein Optimist: "Er glaubt, dass alles gut wird. Ich sehe das, was jetzt passiert, die Schweinereien. Es geht dabei nicht nur um Putin, es geht um eine viel größere Struktur." Unter der Herrschaft des Präsidenten bauten die Silowiki, die Sicherheitskräfte, ihren Einfluss aus. "Heute bestimmen sie die politische und emotionale Landschaft im Land und teilen den Kuchen untereinander auf - sowohl ohne Putin als auch mit seinem Segen."
Asja wird am Wochenende bei den Kindern in Moskau bleiben. Sie kann das erste Mal online abstimmen, allerdings nur bei der Gouverneurswahl. Sie wisse nicht so recht, wie sicher das Verfahren sei. Ihr Sohn habe sie gefragt, ob sie wählen wolle. Von wollen könne keine Rede sein, sagt sie. "Wahlen sind eine recht traurige Zeit, denn wir erhoffen uns nichts davon."

Vater Konstantin Osnos: Reine Vernunftentscheidung
Foto: Christina Hebel/ SPIEGEL ONLINEDie Proteste
Als Zehntausende auf dem Sacharow-Prospekt im August demonstrierten, wollte Tochter Arina auch hin. Der bekannte YouTuber Juri Dud, dessen Videos sie schaut, hatte zur Teilnahme aufgerufen: "Aber ich wollte nicht ohne meinen Vater gehen, ich habe Angst." Doch Konstantin wollte nicht. Wer wisse schon, was einem zustoße.
Versteht er, dass im Westen immer wieder die Frage gestellt werde, warum nur wenige auf die Straßen gingen, wenn doch so viele Russen unzufrieden seien?
Asja schaltet sich ein, sie wird energisch und redet schnell: "Wir leben hier wie in einer Lotterie, keiner kann sagen, wem was wie zustößt. Es gibt keine Spielregeln." Man könne im Gefängnistransporter landen, im Krankenhaus mit gebrochenen Beinen - oder für Jahre im Gefängnis. "Was ist mit meinen Kindern, wenn ich wie eine Verbrecherin behandelt werde?" Ihre Freunde gehen zu den Protesten, "aber ich spüre wirklich die Angst".
Die wirtschaftliche Lage
Machen der Familie die Nachrichten von einer drohenden Rezession Sorge? Seit Jahren sinken die Realeinkommen in Russland, steigt die Zahl der Armen. Asja und Konstantin schütteln den Kopf. "Geld ist nicht das Problem, wir sind hier in Moskau." Das Leben sei teurer als anderswo, aber ihre Miete mit nur rund 670 Euro warm bezahlbar. Geld sei ohnehin nicht alles, so viel werde davon verschwendet, sagt die 43-jährige Mutter.
Ihre Freundin aus Nowosibirsk verstehe nicht, warum sie das Leben in Moskau unter Bürgermeister Sergej Sobjanin nicht genießen könne. Der Putin-Vertraute hat die Wege der Hauptstadt mit Granit pflastern, Parks sanieren und eine Ringbahn bauen lassen. "Es geht doch darum, wie das gemacht wurde. Nach wenigen Monaten kamen die Platten wieder hoch, eine Geldverschwendung", sagt Asja. Korruption nennt Konstantin das.

Mutter Asja Anistratenko: Auf keine Entscheidung Einfluss nehmen
Foto: Christina Hebel/ SPIEGEL ONLINE"Und was mich so stört, ist das Gefühl, dass diese Stadt, dieses Land mir angeblich gar nicht gehören. Ich kann auf keine Entscheidung Einfluss nehmen" sagt Asja. Vielen anderen sei das egal, es herrsche immer noch die sowjetische Mentalität, oben werde schon entschieden. Lange hat sie Beschwerdebriefe geschrieben, weil ihre Familie nachts durch ständigen Baulärm wach lag. Nichts passierte.
Die Zukunft
Die Kinder und die Eltern - das sei das Wichtigste in ihrem Leben, sagen Asja und Konstantin. Ob sie ihre Zukunft in Russland sehen? Nein, nicht wirklich. Sie würden gern in den Westen auswandern: in die Niederlande vielleicht, sagt Konstantin. Oder Großbritannien. Oder die USA, sagt Arina. Da herrsche Freiheit.