Oppositioneller Wladimir Kara-Mursa
Russischer Geheimdienst vergiftete offenbar weiteren Kremlkritiker
Der SPIEGEL und seine Partner haben russische Geheimdienstmitarbeiter identifiziert, die offenbar Alexej Nawalny vergiftet haben. Neue Recherchen zeigen: Auch der Oppositionelle Wladimir Kara-Mursa war in ihrem Fokus.
Der bekannte russische Oppositionelle Wladimir Kara-Mursa wurde womöglich durch den russischen Geheimdienst FSB vergiftet. Gemeinsame Recherchen des SPIEGEL und der Investigativplattformen Bellingcat und »The Insider« zeigen, dass Kara-Mursa sowohl im Mai 2015 als auch im Februar 2017 im direkten Vorfeld zweier Zusammenbrüche mit multiplem Organversagen durch Angehörige des FSB verfolgt wurde, die auch den 2020 vergifteten russischen Kremlkritiker Alexej Nawalny ins Visier genommen hatten.
Der Journalist und Politiker Kara-Mursa ist seit vielen Jahren ein vehementer Kritiker von Russlands Präsident Wladimir Putin. Er war ein Vertrauter des 2015 erschossenen russischen Oppositionellen und Putin-Rivalen Boris Nemzow. Seit 2014 arbeitete er für die »Open Russia Foundation« des ehemaligen Oligarchen und heutigen Kremlkritikers Michail Chodorkowski.
Die erste Reise endete im Koma
Er spielte eine wichtige Rolle bei der Schaffung des Magnitsky-Acts, einem US-amerikanischen Gesetz, wonach Washington die Vermögen von Regierungsmitarbeitern anderer Staaten beschlagnahmen darf, wenn diese in Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen stehen. Ähnliche Gesetze wurden später in vielen Staaten verabschiedet, auch in Deutschland.
Die Recherchen des SPIEGEL und seiner Partner zeigen nun, dass Kara-Mursa womöglich gleich zweimal durch Agenten des Kremls vergiftet wurde.
Demnach begannen Mitglieder des Instituts für Kriminalistik des FSB kurz vor Nemzows Tod im Februar 2015 mit der Beschattung. Ähnlich wie die durch den SPIEGEL und seine Partner enttarnten Mitarbeiter des gleichen Instituts, die im August 2020 Alexej Nawalny vergifteten, beschatteten diese Männer Kara-Mursa nicht direkt: Sie reisten ihm jeweils einen Zug oder ein Flugzeug voraus oder knapp hinterher.
Zu den in diesem Fall identifizierten FSB-Männern gehören zwei Mitglieder des Instituts für Kriminalistik, unter anderem Konstantin Kudriawzew, ein Chemiewaffenspezialist des russischen Geheimdienstes. Kudriawzew hatte im Dezember 2020 seine Beteiligung an der Vergiftung Nawalnys eingeräumt. Er habe an der Vertuschung von Spuren mitgewirkt, sagte er.
Zwei durch den SPIEGEL, Bellingcat und »The Insider« identifizierte FSB-Männer folgten Kara-Mursa auch auf einer Reise nach Kasan vom 22. bis zum 24. Mai 2015. Zurück in Moskau brach er am Nachmittag des 26. Mai zusammen und fiel ins Koma. Zuvor hatte er Atemschwierigkeiten, extrem niedrigen Blutdruck und Herzrasen. In einer Moskauer Klinik wurde danach festgestellt, er sei mit einer »unbekannten chemischen Substanz« vergiftet worden.
Nach Wochen im Koma erwachte Kara-Mursa und wurde für weitere Behandlungen in die USA ausgeflogen. Wenig später stellte er in Russland Strafanzeige. Ermittlungen wurden dort dennoch nicht aufgenommen
Die zweite Reise endete im künstlichen Koma
Nachdem Kara-Mursa nach Russland zurückgekehrt war, nahm der FSB seine Observation wieder auf. Allerdings konnten der SPIEGEL und seine Partner letztmals im Dezember 2016 Beschattungen durch FSB-Männer nachweisen. Mit von der Partie war dabei erneut Konstantin Kudriawzez.
Am 31. Januar 2017 reiste Kara-Mursa mit dem Zug nach Twer, rund dreieinhalb Stunden nordwestlich von Moskau, um dort einen von ihm produzierten Film über den toten Putin-Rivalen Nemzow zu präsentieren. Nach seiner Rückkehr nach Moskau wachte er in der Nacht vom 1. auf den 2. Februar mit den gleichen Symptomen wie im Mai 2015 auf.
In einem Moskauer Krankenhaus wurde er in ein künstliches Koma versetzt. Die Ärzte stellten eine »schwere Vergiftung mit einer unbekannten Substanz« fest. Spezialisten des Hospitals behandelten ihn, nach rund einer Woche wurde er aus dem Koma erweckt und erneut für weitere Behandlungen in die USA ausgeflogen.
FBI untersucht Blut- und Gewebeproben des vergifteten Kremlkritikers
Kara-Mursa ließ diesmal Blut- und Gewebeproben durch die US-amerikanische Bundespolizei FBI untersuchen. Das FBI hat ihm bislang nicht mitgeteilt, mit welcher Substanz er vergiftet wurde. Das Ergebnis sei sicherheitseingestuft, hieß es bislang. Auch eine Klage Kara-Mursas nach dem amerikanischen Informationsfreiheitsgesetz brachte ihm bislang keine Antwort.
Bemerkenswert an der Analyse von Reise- und Telefonverbindungsdaten im Zusammenhang mit Kara-Mursas Fall ist, dass sich in diesem Fall nicht nur Mitglieder des Zentrums für Spezialtechniken und des dazugehörigen Instituts für Kriminalistik des FSB erkennen ließen.
Offenbar scheint auch das zweite Direktorat des FSB, zuständig für »Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung«, eingebunden gewesen zu sein. Mitarbeiter dieses Direktorats reisten gemeinsam mit dem Chemiespezialisten des Instituts für Kriminalistik Kara-Mursa nach.
Führende Vertreter des Instituts wie Stanislaw Makschakow standen in Verbindung mit hochrangigen Offizieren des Direktorats für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung.
Roman Mezenzew etwa, ein hochrangiger Beamter im zweiten Direktorat, stand im Vorfeld der Nawalny-Vergiftung im Jahr 2020 in engstem Kontakt mit Makschakow. Häufig trat Makschakow nach den Gesprächen mit Mezenzew mit Vertretern der achtköpfigen Truppe, die an Nawalnys Vergiftung beteiligt war, in Kontakt. Und im Jahr 2015 gehörte Menzenzew zu jenen Männern, die Kara-Mursa folgten – oftmals in Begleitung von Leuten des Instituts für Kriminalistik.