Putins Sieges-Kult in Russland Die letzten Geiseln des Krieges

Kriegsveteran bei der Siegesparade in Moskau: Erinnerung an den Krieg gekidnappt
Foto: Sergei Ilnitsky/ dpaJedes Jahr am 9. Mai gehe ich für gewöhnlich mein Telefonbuch durch und tippe auf Russisch die Glückwunschformel "S dnjom Pobedy" in mein Handy, übersetzt heißt das so viel wie: Gratulation zum Tag des Sieges. Für gewöhnlich sitze ich dann noch einige Momente unschlüssig herum: absenden oder nicht? Ich habe diese SMS seit einiger Zeit an Freunde in Russland geschickt, inzwischen sind Kontakte in der Ukraine und Weißrussland dazu gekommen. Ich halte das seit 14 Jahren so, muss aber jedes Mal auf's Neue etwas in mir überwinden.
Ich bin mit 19 für ein Jahr aus dem Rheinland nach Sankt Petersburg gezogen. Ein paar Hundert Meter von dem Haus im Zentrum, in dem ich wohnte, erinnert eine Plakette an die Opfer des Artillerie-Beschusses der deutschen Wehrmacht. Meine Arbeitsstelle lag 20 Kilometer außerhalb der Stadt, neben einer Sommerresidenz der Zaren. Ein schottischer Architekt hat sie erbaut, ein eher elegantes Palais mit weißen Säulen. Deutsche haben es im Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche gelegt und in dem angrenzenden Park - bevor sie abzogen - Hunderte ihrer Toten verscharrt. Während der Belagerung der Stadt starb fast eine Million Menschen durch Hunger und Beschuss.
Es fühlte sich damals fast wie eine Anmaßung an, überhaupt hier zu sein. Und kann man als Deutscher überhaupt Glückwunsch-SMS verschicken an jene, deren Großeltern im Krieg von Deutschen verwundet oder getötet worden sind? Ich zögere jedes Mal und habe Zweifel - bis die ersten Antworten eintreffen. "Danke, dass du daran gedacht hast", steht da, oder auch: "Das ist unser gemeinsamer Sieg über die Schrecken des Kriegs".
Es war nicht immer so, aber: Seit ich Russland kenne, ist der 9. Mai für viele Russen der wichtigste Feiertag des Jahres. Er ist wichtiger als Weihnachten, Ostern und Neujahr. Auf Moskaus Straßen herrscht Volksfeststimmung, vor dem Bolschoi-Theater spielen Musikanten zum Tanz auf, am Abend schießen Artillerie-Geschütze Feuerwerk in den Himmel. Ein Volk feiert, dass es der Vernichtung entgangen ist, und keiner zieht die Augenbrauen hoch, wenn man sich als Deutscher dazugesellt. Im Gegenteil: Man ist dann Ehrengast.
Aus deutscher Sicht ist das die vielleicht verblüffendste Errungenschaft der Sowjetunion: Es gibt schon lange keinen Groll mehr auf das Land, dessen Angriff die Sowjetunion 30 Millionen Menschenleben kostete.
Das Georgsband, heute ein Zeichen der Gleichheit
Vor einem Jahr hätte ich fast auf die SMS-Glückwünsche verzichtet. Ich befand mich auf der Rückreise aus Donezk. Prorussische Separatisten hatten gerade in der Ostukraine ihre "Volksrepublik" ausgerufen. Viele von ihnen trugen das Georgsband an ihren Kampfanzügen, ein Stück Stoff mit Streifen in Schwarz und Orange, das vorher ein Zeichen der Erinnerung an den Sieg über Hitlerdeutschland gewesen war.
Das Band wurde 2005 das erste Mal in Moskau verteilt, von der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Nowosti und der Kreml-Jugend "Naschi - Die Unsrigen", die sich auf die Fahne geschrieben hatte, Massenproteste wie in der Ukraine während der Revolution in Orange zu verhindern.
Heute wirkt das Georgsband wie ein Zeichen der Gleichheit. Es verbindet und soll Legitimation ableiten vom Großen Vaterländischen Krieg gegen Hitler damals für Russlands schmutzige Feldzüge heute. Die Kreml-Medien kreischen deshalb von der angeblich "faschistischen Junta" in Kiew, wie sie zuvor schon in Georgiens damaligem Präsidenten Saakaschwili einen Widergänger Hitlers erkannt haben wollten.
Wenn früher am 9. Mai in Moskau oder Sankt Petersburg die Geschütze Feuerwerk-Kanonaden in den Himmel donnerten, habe ich immer eingestimmt in die Hurra-Rufe der Menschen um mich herum. Inzwischen bleiben sie mir im Hals stecken. Der Kreml hat die Erinnerung an den Weltkrieg gekidnappt. Es macht mich ratlos, dass auch unter langjährigen russischen Freunden viele den Geiselnehmer für einen Befreier halten.
Der russische Staat feiert sich selbst
Man kann Gänsehaut bekommen, wenn am 9. Mai die letzten Veteranen über den Roten Platz gehen, durch ein Spalier zur Tribüne am Lenin-Mausoleum, und jeder einzelne von ihnen begrüßt wird mit dem donnernden Applaus von mehreren Tausend Soldaten.
Aber die Zahl der Veteranen schrumpft mit jedem Jahr, und die der Panzer, Flugzeuge, Haubitzen und Raketen steigt. Die Materialschlacht wächst mit jedem Jahr. Mich beschleicht der Verdacht, dass es in Wahrheit längst nicht mehr um den Mut, das Leid und die Entbehrungen der sowjetischen Soldaten und Bürger geht. In Wahrheit feiert der heutige russische Staat und dessen Führung inzwischen vor allem eins: sich selbst.
Der 9. Mai hat erst lange nach dem Krieg seine Bedeutung erhalten. Es gab zunächst keine jährlichen Paraden. Erst 1965 wurde er zum Feiertag. Im Kreml saß damals Leonid Breschnew. Es war die Zeit, in der die Sowjetunion nach Stalins Terror, dem Weltkrieg und der Entstalinisierung etwas zur Ruhe kam. Gleichzeitig steht der Name Breschnew aber auch für die Verkrustung des Systems, für Stagnation.
Die Einführung eines "Tag des Sieges" bildete einen stabilen Grundstein für die Identität eines Landes mit schwieriger Vergangenheit. "Ein Staat, der sich durch den Sieg über Hitler legitimierte, brauchte keine Rechenschaft mehr über die Revolution von 1917, den Bürgerkrieg, den Gulag oder den Großen Terror abzulegen",konstatiert der Potsdamer Historiker Jan C. Behrends.
Kein Platz für Grautöne und Schatten
Das wirkt heute ähnlich. Kaum eine aktuelle Rede eines russischen Politikers kommt ohne einen Verweis auf den Triumph über den Faschismus aus. Präsident Putin spricht von einem "Land der Sieger", ganz so, als würde Russlands Rolle im Zweiten Weltkrieg auf magische Weise sicherstellen, dass der russische Staat niemals auf der falschen Seite der Geschichte stehen kann.
Heldenbilder haben keinen Platz für Grautöne und Schatten. Aus dem Museum Perm-36, das an die Leiden der sowjetischen Gulag-Häftlingen erinnert, sollen auf Betreiben der Behörden die Verweise auf Stalins Repression verschwinden. Wenn ein deutscher Historiker behutsam einige Mythen der sowjetischen Partisanen-Bewegung als Aufschneiderei entlarvt, wird seine Arbeit als "extremistisch" eingestuft.
Russland ist heute überhistorisiert und unhistorisch zugleich. Es gibt Tortenwettbewerbe und Bodypainting zur Feier des Sieges, bei dem sich junge Leute T-34-Panzer auf die nackte Haut malen. Der Hype in Verbindung mit Unwissen führt allerdings gelegentlich zu Peinlichkeiten. So musste die Moskauer Gebietsverwaltung Ende April patriotische Plakate wieder abhängen, weil deren Motiv gar nicht wie gewünscht tapfere Rotarmisten zeigte, sondern lächelnde Piloten der deutschen Luftwaffe.
Wie soll man nur umgehen mit diesem Russland, das aus der großartigen Tapferkeit in der Vergangenheit mitunter das Recht auf heutige Niederträchtigkeiten ableitet? Eine Antwort hat Pawel Gussew zu geben versucht. Er ist seit 30 Jahren Chefredakteur der Moskauer Millionenzeitung "Moskowskij Komsomolez".
"Andere haben Technologien. Wir haben einen Wundersieg"
In einer Ecke seines Büros steht eine Lenin-Büste, der KGB wollte sie einmal konfiszieren, weil der Revolutionsführer unvorteilhaft getroffen war, lebensecht nämlich. Gussew trägt seit drei Jahrzehnten Bilder, Büsten und Artefakte der russischen Geschichte zusammen. An der Wand hängt ein Porträt von Stalin. Der Maler hatte sein Werk auf dem Hemd des Sowjetdiktators unterschrieben. Dafür kam er ins Lager, wo er dann starb. Gussew sammelt, damit seine Redakteure sehen, dass Geschichte mehr Schattierungen hat als Schwarz und Weiß.
Der 9. Mai sei zu einer Art Fundament der russischen Politik geworden, sagt Gussew. "Andere haben Technologien, Wirtschaftswunder. Wir haben einen Wundersieg." Aber er hält es für falsch, dass viele westliche Politiker einen weiten Bogen machen um Moskau und die Feiern. Viele Russen solidarisierten sich deshalb mit Putin. "Ihr habt aus Putin einen Helden gemacht", sagt Gussew. Der Westen bestärke die Russen in ihrer Wagenburg-Mentalität.
An diesem Samstag werden 16.000 Soldaten über den Roten Platz marschieren, eine Streitmacht, stark genug, um einen kleinen Krieg zu führen. Präsident Wladimir Putin wird die Parade abnehmen. Das Staats-TV wird ihn ins beste Licht rücken, wenn der neu entwickelte T-14-Panzer an ihm vorbeirollt und die Langstreckenraketen.
Ich werde einen großen Bogen darum machen. Und stattdessen die Musikanten auf den kleinen Straßen besuchen. Mit ihnen kann ich mich von Herzen freuen über den Sieg der Russen über die Nazis. Vielleicht verschicke ich dann auch wieder einige SMS-Glückwünsche.