Saddams Opfer Die Männer ohne Ohren
Basra - Seit die größte Stadt im Südirak von Saddam befreit ist, denkt Amer Mokassin jeden Tag an Rache. "Ich warte noch", sagt Amer. "Aber wenn das neue Regime mein Leben nicht rächt, nehme ich das Gesetz selbst in die Hand und töte", droht er und reißt dabei die Augen auf. Er gibt der künftigen Regierung des Irak nicht viel Zeit. Nur drei Monate will Amer warten. Sind die Männer dann nicht verurteilt, die sein Leben zerstört haben und die bis heute frei in Basra herumlaufen, will er sie umbringen.
Was die Schergen des Baath-Regimes Amer angetan haben, muss der junge Mann nicht erklären. Die schrecklichen Spuren der Diktatur sind auf den ersten Blick sichtbar. Genau das war auch der Sinn der Strafe für den heute 31-Jährigen. Jeder sollte sofort erkennen, dass Amer sich geweigert hatte, ein treuer Soldat Saddams zu werden. Jeder sollte Amer ansehen, dass er nicht mehr zur Gemeinschaft gehörte. Ein Knorpel, der Rest dessen, was einmal Amers rechtes Ohr war, kündet davon.
Amputationen zur Abschreckung
Die Geschichte von Amer ist die von Tausenden jungen Irakern, die den Despoten die Treue verweigerten. Sie versteckten sich, um nicht zur Armee zu müssen. Andere rissen aus den Militärcamps aus. Eine immerwährende Flucht. Jederzeit mussten die Deserteure damit rechnen, entdeckt zu werden. Um den Druck auf jegliche Unwilligen noch zu erhöhen, ließ sich Saddams Sohn Udai Ende der achtziger Jahre die Ohramputation einfallen. Jeder Iraker kennt die Geschichte dieser Stigmatisierung. Jeder weiß, was sie bedeutet. Das Wissen, welche Strafen Regimegegnern drohen, festigte Saddams Macht auch in den entlegensten Winkeln des Irak.
Amers Flucht vor den Häschern Saddams begann mit seinem 18. Geburtstag. "Mir war klar, dass ich sofort zur Armee eingezogen werden würde", erinnert er sich an die Tage im Januar 1990. Im irakischen Fernsehen lief damals nach den Abendnachrichten ein staatlicher Werbespot, in dem ein in Zivil gekleideter Mann zum Gang in die Kaserne lockte. Doch Amer wollte kein Soldat werden. "Ich hatte einfach Angst", sagt er, "außerdem konnte ich mit dem Drill des Militärs und der Anbetung Saddams nichts anfangen." Aber dem jungen Mann war damals ebenso klar, dass er sich von nun an verstecken musste.
Der auserwählte Beobachter
Das erste Versteck fand Amer bei seiner Tante Zainab in einem kleinen Dorf bei Basra. Zwar war er hier zunächst vor dem Zugriff der Armee sicher, doch sein Leben wurde trist. Auch im Dorf seiner Tante hielt der al-Mukthar penibel Ausschau nach Fremden und Verdächtigen. Jeder Wohnblock und jede Straße im Irak hatte einen solchen Blockwart der Baath-Partei, einen - auf Deutsch übersetzt - Auserwählten. Er beobachtete jeden seiner Nachbarn. Er notierte, wer fortzog oder hinzukam und rapportierte die Daten regelmäßig an die nächste Parteizentrale. Die Iraker kannten ihre Auserwählten genau. Ohne Anmeldung kam er zu Besuch und lud sich selbst zum Essen ein. Behördliche Vorgänge liefen nur über ihn. "Viel bewegen konnte ich mich nicht, also blieb ich zu Hause und arbeitete dort für meine Tante", beschreibt Amer seine Tage im Versteck.
Nur in der Nacht schlich er sich alle paar Wochen zu seiner Familie nach Basra. Jedes Mal musste er dabei fürchten, vom al-Mukthar entdeckt und festgenommen zu werden. Regelmäßig tauchte dieser nach Amers Verschwinden bei der Familie auf und bedrohte die Verwandten. Mal brach er mitten in der Nacht mit bewaffneten Baath-Mitgliedern in das Haus ein. Ein anderes Mal schloss er die Familie von den bürokratisch verwalteten Essensrationen aus. "Ich fand nach Amers Flucht keinen Job mehr", sagt sein Bruder Thamer, "mit allen Mitteln wollten sie uns zwingen, Amers Versteck preiszugeben und meinen Bruder zu verraten". Auch die Freunde des jungen Mannes wurden verhört. Doch sie schwiegen.
Lesen Sie im zweiten Teil: Wie Amer Mokassin gefangen und unter falschem Vorwand ins republikanische Krankenhaus gebracht wurde
Wie ein erlegtes Wild
Im September 1994 erreichte der Auserwählte endlich sein Ziel. Als Amer wieder einmal seine Familie besuchte, stürmte Jabar Kraidi mit seinen Männern das Haus. "Sie schossen in die Decke und als ich weglaufen wollte, bekam ich zwei Schüsse ins Bein", beschreibt Amer die Situation. Dann schleppte ihn der al-Mukthar triumphierend durch die Straße seines Viertels. Jeder sollte sehen, dass es vor Saddams Armee keine Flucht gab. Gemeinsam mit Dutzenden anderen Gefangenen wurde Amer noch in der gleichen Nacht in eine der Zellen des Polizeigefängnisses in Basra gesteckt. Dort war es so eng, dass sich immer nur ein Teil der Männer hinlegen konnte. Schlief die eine Gruppe, musste die andere stehen und umgekehrt. Amers Willen brachen die Wärter mit ihren Knüppeln und Gewehrgriffen.
Acht Tage später wurden alle Gefangenen aus der Zelle ins republikanische Krankenhaus in einen Vorort Basras gefahren. "Wir sollten dort Blut spenden, wurde uns befohlen", sagt Amer. In der Tat zapften die Ärzte dem jungen Mann zuerst auch zwei Ampullen mit Blut ab. Danach flüsterte ihm eine Schwester ins Ohr, er bekäme zur Stärkung eine Spritze mit Vitaminen. Wenig später schlief Amer ein. Als er aufwachte, spürte er nur noch schreckliche Schmerzen. "Die Wunde am Ohr war nicht verbunden und entzündete sich schnell", erinnert er sich an den Moment, als er im Gefängnis wieder zu sich kam. "Das Blut lief immer weiter und ich wusste erst gar nicht, was passiert war." Nur dank der Hilfe seiner Verwandten, die immer wieder Wärter bestachen und Medikamente in den Knast schmuggelten, heilte die Wunde nach Wochen ab.
Ein Soldat ohne Waffe
Zwei Jahre blieb Amer in den überall im Irak verteilten Straflagern für Landesverräter. Am Ende landete er in einem Militärgefängnis in Saddams Geburtstort Tikrit. Dort machten ihm die Wärter schließlich 1996 ein Geschenk, wie sie es nannten. Trotz seiner Feigheit dürfe er nun doch noch in die Armee eintreten und seinen Dienst ableisten. Eine Wahl hatte er nicht. Doch Amer erhielt weder eine Grundausbildung, noch eine Waffe. "Ich musste nur die Dienste für die anderen erledigen, Kisten schleppen, gefährliche Entschärfungen machen", sagt er. Nachts wurde er bewacht.
Seit dem Jahr 2000 lebt Amer wieder bei seiner Familie in Basra. Mittlerweile hat er zwei Söhne und eine Tochter. Seine Frau Wahfa ist im siebten Monat schwanger. Ein Aussätziger aber blieb Amer auch nach seiner Entlassung aus der Armee. Statt dem normalen gelb-grünen Ausweis bekam er einen roten. Statt durch den al-Mukhtar einen Job vermittelt zu bekommen, musste sich Amer als Tagelöhner durchschlagen. "Immer wieder kam der Auserwählte zu mir nach Hause und drohte meiner Familie", sagt Amer und zeigt auf Einschusslöcher in der Decke. "Für die Baathisten war ich weiter ein Ausgestoßener und das zeigten sie mir auch", sagt er. Traf er seinen Blockwart auf der Straße, schlug der ihn gern vor den anderen Menschen, um ihn zu demütigen.
Die Tage der Freiheit
Der al-Mukthar, der Amer ans Messer lieferte, lebt ganz unbekümmert nur wenige Häuser weiter. Im Gegensatz zu vielen anderen Saddam-Getreuen hat sich der Baath-Mann Jaber Kraidi nicht versteckt oder ist geflüchtet. In seinem kleinen Laden für Elektrozubehör übt er sich in englischen Vokabeln und dem Philosophieren über die Zukunft. "Die Koalition hat uns zwar Freiheit gebracht, doch früher lebten wir sicherer", sagt der Mann, den die Menschen vor der Tür noch immer fürchten. Als einer der wenigen Läden in der Straße wurde seiner von den Plünderern verschont. Stolz berichtet er von seiner Zeit als General in der Armee und seiner Zeit in Russland, von der er noch ein paar Worte russisch behalten hat.
Kraidi gibt zu, dass er ein Baathist war. Daran sei auch nichts Schlechtes. "Ich habe vielen Menschen geholfen und ihnen Jobs gegeben", sagt er zufrieden. Erst als es um seine dunkle Vergangenheit geht, wird der ehemals mächtige Kraidi unruhig. Fotografiert werden will er nicht und auch seinen Namen will er plötzlich nicht nennen. "Ich bin 1997 aus der Partei ausgetreten", gibt er vor. Angeblich, so flüstert er vertrauensvoll, habe er von Saddam schon früh nichts mehr gehalten. Er habe auch keine Akten mehr über andere anlegen wollen. Dass schon der Versuch eines Parteiaustritts die sofortige Exekution bedeutet hätte, sei Quatsch und Propaganda. Nach Amer Mokessin gefragt, beendet er schnell das Gespräch. "Ich habe keine Ahnung, wer das sein soll", sagt er.
Die Leiden der Ärzte
Im republikanischen Krankenhaus indes erinnern sich viele Menschen an die Zeit der Amputationen. "Als ich hier im Jahr 1997 anfing, erzählte mir ein Kollege von diesen Dingen und das es Hunderte gewesen sein müssen", sagt der Chirurg Hamed Ahmed Abdullah. Damals habe sich niemand getraut, offen über das Thema zu reden. "Ich habe den leitenden Arzt irgendwann einmal gefragt, als wir nicht belauscht werden konnten", erinnert sich Abdullah. Der Kollege habe schreckliche Angst gehabt. Jeder Mediziner habe gewusst, dass er keine Wahl hatte. Entweder der Arzt führte die Amputation durch oder er wurde selber in den Knast gesteckt. Der Arzt aus dem republikanischen Krankenhaus arbeitet mittlerweile nicht mehr im Irak. Nach einem Kongress im Ausland kehrte er nicht wieder zurück.
Amer macht den Ärzten keinen Vorwurf. "Sie mussten dies tun, wie viele Iraker wurden auch sie bedroht", sagt er. Für ihn ist nun wichtig, dass die Mächtigen der Baath-Partei zur Verantwortung gezogen werden. "Es muss doch irgendwann Gerechtigkeit geben, wenn die USA und die Briten schon hier sind", hofft er. Sein Bruder Thamer will sich mit dieser vagen Vorstellung einer Wiedergutmachung nicht abgeben. "Der Auserwählte verdient den Tod und nichts anderes", sagt er, als Amer kurz nicht im Raum ist. Wenn sein Bruder es nicht selber tue, sei er fest entschlossen. Über einen Freund hat er bereits eine Waffe bestellt. Sein Bruder Amer soll davon nichts mitbekommen. Er habe genug gelitten.