San Francisco Fackel auf der Flucht - IOC-Boss Rogge gesteht Krise ein
San Francisco - Die olympische Fackel ist noch nicht an den ersten Läufer übergeben, da gibt es schon Probleme: Tibetanische Demonstranten stoppen einen offiziellen Bus mit Fackelläufern an Bord. In tibetanische Flaggen gehüllt liegen die Protestierer auf der Straße und skandieren: "Schäm dich, China, Schäm dich, China". Andere sprühen mit roter Farbe "Free Tibet" auf die Seiten des Fahrzeugs, bekleben es mit Pro-Tibet-Aufklebern und klemmen Plakate unter die Scheibenwischer. Die Windschutzscheibe ist zersplittert. Der Fahrer telefoniert hektisch, Sicherheitsleute rufen nach Verstärkung. "Wir haben nur vier Polizisten vor dem Bus, mehr nicht", ruft einer von ihnen in sein Handy. "Dies ist schrecklich."
Schon seit dem Morgen versammeln sich Tausende Menschen bei Sonnenschein und warmen Frühlingswetter entlang der geplanten Route der Fackel an der Promenade zwischen Golden Gate Brücke und der Bay Brücke: Olympia-Fans mit großen, roten China-Flaggen, herangekarrt in von der chinesischen Botschaft bezahlten Bussen. Viele tragen rote T-Shirts. Die Gegendemonstranten tragen ebenso große tibetanische Flaggen, Protestschilder und Trainingsjacken mit dem Aufdruck "Team Tibet", dem Zusammenschluss verschiedener Gegner des Fackellaufs in San Francisco. Stundenlang stehen sich Teilnehmer beider Gruppen am Startpunkt des Laufs gegenüber, kaum einen Meter voneinander entfernt, getrennt durch ein paar Polizisten. "Go China! Go China", brüllt die eine Seite. "China raus aus Tibet", die andere.
Diese Szenen und die großen Menschenmengen waren es, die die Organisatoren dazu brachten, die Route zu ändern und um die Hälfte zu kürzen. Statt entlang der Promenade ging es nun auf eine normale Straße ohne besondere Szenerie. San Francisco wählte den sicheren Weg, und tatsächlich gab es keine ernsthaften Zwischenfälle. Aber es war fast so, als hätte man den Fackellauf abgesagt, denn nun hat die Zeremonie etwas von einem hastigen Versteckspiel ohne Feierlichkeit und Würde. Die Olympische Fackel in San Francisco war eine Fackel auf der Flucht. Die Chinesen fühlten sich am Ende um ihre Feier betrogen, die Gegendemonstranten um ihren Protest.
Die Läufer winken - es fehlen nur die Zuschauer
Gleichwohl dürfen diese sich als Sieger fühlen, weil sie es geschafft haben, die Flamme aus dem Land zu jagen. Denn nach der Eröffnungszeremonie ist gleich wieder Schluss: Die erste Fackelträgerin wird an Absperrungen vorbei in einen dunklen Hafenschuppen geleitet. Fast eine Stunde passiert nichts, dann tauchen zwei Fackelträger ganz woanders wieder auf, mehr als einen Kilometer von der Originalroute entfernt. Die beiden Läufer sind umringt von chinesischen Sicherheitsleuten in hellblauen Trainingsanzügen. Um diese formt sich ein Kreis von joggenden Polizisten mit gezogenen Knüppeln. Ganz außen fahren Polizisten auf Motorrädern. Die Läufer winken scheinbar begeistert, es fehlt nur die Menge, an die sich das Winken richten könnte. Denn am Rand stehen nur ein paar verdutzte Touristen, die ein Foto mit ihrem Handy machen. Alle anderen stehen mit ihren Fahnen und Schildern ahnungslos ganz woanders.
Nur wenige Demonstranten holen die Fackel ein, alarmiert durch ein SMS-Verständigungssystem, mit dem sich die Aktivisten fast minütlich kurzschließen. Es kommt tatsächlich noch zu ein bisschen Geschubse, Polizisten werfen sich auf einen besonders ungebärdigen Demonstranten, eine Fackelläuferin, die eine Tibetfahne aus dem Ärmel zieht, wird abgedrängt.
IOC-Chef Rogge spricht von einer "Krise"
Als sich bei den vielen tausend Menschen entlang der ursprünglichen Strecke herumspricht, dass die Fackel ganz woanders ist, versuchen die einen, die Fackel einzuholen, die anderen machen sich auf den Weg zur geplanten Abschlussfeier. "Ich bin so enttäuscht", sagt ein Mann, der sich eine chinesische Flagge auf die Wange gemalt hat. "Warum verstecken sie die Fackel vor uns?" Peter Ueberroth, Chef des US-olympischen Komitees gibt sich hingegen hochzufrieden und sagt, San Francisco habe für alle Seiten die "richtige Balance" gefunden.
Weniger zufrieden zeigte sich Jacques Rogge. Der Chef des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) sprach erstmals von einer "Krise". Bei einem Treffen mit seinen Kollegen der 205 nationalen Olympischen Komitees in Peking nannte er den Verlauf des olympischen Fackellaufs in San Francisco allerdings als Fortschritt im Vergleich zu den tumultartigen Szenen in London und Paris an den Tagen zuvor. "Er war allerdings nicht das fröhliche Fest, dass wir uns gewünscht hätten", sagte Rogge. "Wir waren betrübt darüber, was wir in London und Paris gesehen haben." Rogge sagte weiter, die Olympischen Spiele würden sich jedoch von dem Rückschlag der derzeitigen "Krise" erholen. Den chinesischen Veranstaltern zollte er Lob. Die Spiele in Peking würden sehr gut organisiert.
Erneut sprach Rogge von "schweren Sorgen" wegen der Lage in Tibet und rief zu einer "schnellen und friedlichen Lösung" auf. "Die Athleten in vielen Ländern sind verwirrt, und wir müssen sie beruhigen", sagte er. Die Spiele im August müssten von "Respekt für ethische Werte, keinem Doping, keinem Betrug und Respekt für die Menschenrechte" getragen sein.
Derweil lieferten sich Olympia-Fans und Demonstranten in San Francisco den ganzen Tag über Schreiduelle. Der gebürtige Tibeter Tashi Dorjee aus Minnesota ist schon wochenlang in Kalifornien mit dem Rad unterwegs, um für die Situation für Menschenrechte in Tibet einzutreten. Auf dem Rad will er einen alternativen Fackellauf, die "Menschenrechtsfackel", auf dem Highway One bis nach Los Angeles begleiten. "China benutzt die Olympischen Spiele", sagt er. "Die kommunistische Partei Chinas versucht, den Geist der Spiele zu nutzen, um ihr Image aufzupolieren." Er spricht von den Todesopfern in Tibet, den Dissidenten im Gefängnis und davon, dass China für den Völkermord in der sudanesischen Provinz Darfur die Waffen liefert.
Wie die Kletterer auf der Golden Gate die Polizei austricksten
All das will der chinesischstämmige Alex Li aus San Jose nicht hören. "Warum hijackt ihr diese Veranstaltung? Warum? Ihr liegt einfach falsch", brüllt der Software-Ingenieur dem Radler wütend entgegen. "Die Spiele sind für die Menschen in China, nicht für die Regierung. Aber mit diesen Protesten stellt ihr euch gegen die chinesischen Menschen. Ihr könnt protestieren. Aber warum hier? Warum jetzt?"
In San Francisco leben viele Asiaten und besonders viele Chinesen. Die Wirtschaftsbeziehungen und andere Verbindungen nach China sind besonders eng. Deshalb wurde San Francisco als einzige Stadt in den USA für den Fackellauf ausgewählt. Eine Route durch Chinatown wurde aus Sicherheitsgründen schon früh verworfen. Aber jetzt, wo sie der Fackel noch nicht einmal zujubeln dürfen, fühlen sich viele Chinesen betrogen. "Ich bin stolz auf die Olympiade, ich bin stolz auf Peking und mein Land", sagt Dan Liu, die im Umland von San Francisco wohnt. Sie sagt, sie habe den Dalai Lama, den spirituellen Führer Tibets immer gemocht, aber seitdem er die Olympiade für seine politischen Ziele nutze, "seitdem hasse ich ihn."
Mit dem Kinderwagen auf die Golden Gate Brücke
Unter den Tibet-Aktivisten ist auch der Lehrer Laurel Sutherlin. Dem Hobby-Kletterer war es zusammen mit zwei Gleichgesinnten gelungen, am Dienstag die Golden Gate Brücke zu erklimmen, um riesige Banner mit der Aufschrift "Free Tibet 2008" zu entrollen. Jetzt versucht er schon wieder, Demonstranten besonders effektiv an der Route zu plazieren, nachdem er erst um ein Uhr nachts aus dem Gefängnis entlassen wurde. "Wir haben unsere Banner in Kinderwagen versteckt auf die Brücke gebracht", erzählt er von seiner Aktion. "Und wir wussten, dass wir in 90 Sekunden oben sein mussten, weil die Polizei zwei Minuten brauchen würde. Und so hat es auch geklappt."
Sutherlin hofft, dass der Fackellauf "zum PR-Desaster für Peking wird". Mit den Protesten wolle er verhindern, "dass die Fackel durch Tibet getragen wird. Denn sonst gibt es dort Proteste und wieder Tote und das Olympische Komitee hätte Blut an den Händen." Sutherlins Kletterei war spektakulär, aber nur eine von vielen Protestaktionen gegen China in San Francisco. Burmesische Mönche marschierten über die Golden Gate Brücke. Am Dienstag versammelten sich mehrere tausend Demonstranten mit Kerzen auf dem Platz der Vereinten Nationen im Zentrum der Stadt: Mönche in Kutten, alternde Hippies mit Pferdeschwanz, tibetanische Studenten mit schwarzen Stirnbändern. "Stellt China bloß! China lügt!", skandierten sie.
Sogar Friedensnobelpreisträger Bischof Desmond Tutu war gekommen. "Menschen haben für uns in Südafrika demonstriert", sagte er, jetzt sei es an der Zeit, für die Unterdrückten in Tibet zu demonstrieren. Er appellierte an die Staatschefs, an Präsident Bush. "Um der Menschen in Tibet willen: Geht nicht zur Eröffnungsfeier. Geht nicht!" Schauspieler Richard Gere, selbst Buddhist und ein Verehrer des Dalai Lama, betete mit Mönchen auf der Bühne. Er beschwor die Demonstranten, einen "gewaltfreien Pfad" zu wählen. Und er sagte, er habe wohl noch nie so viele Interviews zu Tibet gegeben, wie in den letzten Tagen.
Und deshalb war es nicht ganz falsch, als die Protestgruppen von "Team Tibet" um kurz nach vier Uhr Ortszeit in San Francisco per SMS den "Sieg" verkündeten. "Die Fackel ist auf der Autobahn, Richtung Flughafen, auf der Flucht", schrieben sie. Die Organisatoren hatten Minuten vorher auch noch die Abschlusszeremonie in einem Park mit Live-Musik und VIP-Zelt abgesagt. Statt fröhlicher Feiern zeigten Live-Kameras aus Hubschraubern, wie der Bus mit der Fackel eilig Richtung Flughafen brauste.