Boris Johnsons Mission in Schottland
Es kann nur Einheit geben
In Edinburgh verspotten sie den britischen Premier, trotzdem will er in Kürze Richtung Highlands reisen, um das Auseinanderbrechen des Königreichs zu verhindern. Nach dem Brexit ist der Ton für das nächste Scheidungsdrama gesetzt.
Premierminister Boris Johnson beim Besuch einer Farm bei Aberdeen, Schottland (2019): »Kauerndes, ängstliches Wesen«
Foto: ANDREW MILLIGAN / AFP
Die Reisewarnung, die die in Schottland regierende Nationalpartei (SNP) am Montagabend verhängte, kam aus gegebenem Anlass: »Das Gesetz in Schottland schreibt vor, dass jede Arbeit, die von zu Hause aus zu erledigen ist, auch dort erledigt werden muss«, verkündete ein Sprecher.
Reisen, sofern nicht unbedingt erforderlich, seien zu unterlassen. Einen bestimmten Adressaten für ihre Warnung nannte die SNP nicht – aber in diesem Fall wusste jeder im Vereinigten Königreich, wer gemeint ist: Boris Johnson.
Stunden zuvor hatten britische Medien berichtet, der Regierungschef plane in Kürze einen Ausflug in den hohen Norden. Der offenbar hastig eingefädelte Trip, so die Londoner »Sun«, gleiche einer »Rettungsmission«. Johnson plane, die Schotten vor Ort mit einem »leidenschaftlichen Appell« zu umgarnen, damit sie »kleingeistigem Separatismus« abschwören.
Alle Umfragen sprechen für die Unabhängigkeit
Ob der Premier, der sich seit seinem Amtsantritt im Juli 2019 auch »Minister für die Union« nennt, damit durchdringen wird, ist eher fraglich. Anfang Mai werden die Schotten, wenn es die Pandemie erlaubt, ein neues Regionalparlament wählen. Seit Monaten prophezeien Meinungsforscher der seit 2011 regierenden SNP einen Erdrutschsieg. Und die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon ist wild entschlossen, die Bürger danach erneut über die Unabhängigkeit abstimmen zu lassen.
Britischer Regierungschef Boris Johnson, Schottlands First Minister Nicola Sturgeon in Edinburgh (2019): Er »fürchtet den Willen der Schotten«
Foto: Duncan McGlynn / AP
Beim ersten Independence Referendum (IndyRef1) 2014 hatten sich noch 55 Prozent der Wähler für den Bund mit England, Wales und Nordirland ausgesprochen. Doch seitdem ist viel passiert. Und alle Umfragen sprechen mittlerweile dafür, dass beim zweiten Versuch eine deutliche Mehrheit für die Scheidung votieren würde.
Die Zeichen könnten für die SNP, die trotz ihres irreführenden Namens eine weltoffene linksliberale Agenda vertritt, besser nicht stehen. Seit Beginn der Coronakrise hat Sturgeon die Tatsache, dass die vier Landesteile des Königreichs ihre eigene Gesundheitspolitik verantworten, geschickt für ihre Zwecke genutzt. Während Johnson die Engländer mit einem Zickzackkurs verunsicherte und der Entwicklung stets hinterherhinkte, inszenierte sich Sturgeon als gradlinige und empathische Landesmutter.
Die Schotten fühlen sich ignoriert und übergangen
Zwar hat die Pandemie, gemessen an der Einwohnerzahl, in Schottland ähnlich verheerend gewütet wie bei den Nachbarn im Süden. Offiziell sind im Vereinigten Königreich jetzt mehr als 100.000 Menschen an oder mit Covid-19 gestorben – tatsächlich dürften es nach Zahlen der nationalen Statistikbehörde sogar mindestens 20.000 Tote mehr sein. Aber im Gegensatz zu Johnson hat das Sturgeons Ansehen keinen Abbruch getan. Sie ist inzwischen sogar in weiten Teilen Englands beliebter als Boris Johnson.
Zudem hat der Brexit, der zum Jahreswechsel endgültig vollzogen wurde, viele Schotten erbost. Sie hatten im EU-Referendum 2016 mit deutlicher Mehrheit für den Verbleib im Staatenbund gestimmt. Seither fühlen sie sich von den in London regierenden Konservativen ignoriert und übergangen.
Dass Nordirland aufgrund einer Sondervereinbarung mit Brüssel faktisch im EU-Binnenmarkt verbleiben darf, während Schottland die Folgen des harten Bruchs mit ausbaden muss, stößt vielen sauer auf. Nach einem IndyRef2 hoffen sie auf einen baldigen Wiedereintritt in die EU als unabhängiger Staat.
Die schottischen Nationalisten sind ihrer Sache so sicher, dass sie inzwischen sogar voll auf Konfrontationskurs mit Johnsons Regierung gehen. Am Wochenende beschloss die SNP einen Elf-Punkte-Fahrplan zur Unabhängigkeit. Demnach will die Regierung in Edinburgh unmittelbar nach einem Wahlsieg im Mai von London die verfassungsrechtlich erforderliche Genehmigung für ein weiteres Referendum, eine sogenannte Section 30 Order, einfordern. Sollte diese ausbleiben, werde man selbst die gesetzlichen Rahmenbedingungen für eine erneute Volksabstimmung schaffen.
Sturgeon nennt Johnson ein »ängstliches Wesen«
Nicht zufällig erfolgte die Kampfansage am Vorabend des Geburtstags von Robert Burns, einem der Nationaldichter Schottlands. In der BBC verspottete Sturgeon den britischen Regierungschef mit Burns' Worten als »kauerndes, ängstliches Wesen«. Johnson »fürchtet den Willen der Schotten, er hat Angst vor der Demokratie«. Zugleich beteuerte Sturgeon jedoch, sie wolle keine verfassungswidrige Abstimmung nach dem Vorbild Kataloniens, sondern ein »legales Referendum«.
Wie das ohne Genehmigung aus London funktionieren könnte, haben Verfassungsrechtler bereits skizziert. Demnach könnte die Regierung in Edinburgh die Schotten zunächst lediglich befragen, ob sie in Verhandlungen mit London über eine mögliche Unabhängigkeit eintreten soll. Ein Trick – aber einer, dessen Dynamik dazu führen könnte, dass London am Ende klein beigeben und das IndyRef2 zulassen muss.
Bislang schließt Johnson das rigoros aus. Erst kürzlich sagte er in einem Interview, zwischen den beiden britischen EU-Referenden 1975 und 2016 hätten etwa 40 Jahre gelegen; das sei »die richtige Zeitspanne« für derartige Abstimmungen, die in seinem Land erfahrungsgemäß »nicht eben vergnüglich« verliefen.
Immer weniger Briten fühlen sich britisch
Aber selbst in Johnsons Kabinett glaubt nicht jeder, dass sich ein striktes Nein Richtung Schottland auf Dauer durchhalten lässt. Vielmehr müsse Johnson jetzt, da er den Brexit gestemmt habe, das tun, was er bei Amtsantritt versprochen hatte: die auseinanderdriftenden Teile des Königreichs zusammenzuhalten. Sein geplanter Ausflug nach Schottland dürfte daher nicht der einzige bleiben.
Wie gewaltig Johnsons Aufgabe ist, hat gerade erst eine Umfrage für die Londoner »Times« ergeben. In allen vier Landesteilen bezeichnen sich demnach immer weniger Menschen als britisch. Neben den Schotten zieht es vor allem die Nordiren weg von England. Auch dort will eine Mehrheit der Menschen, dass in den kommenden fünf Jahren eine Abstimmung zu einer möglichen Wiedervereinigung mit der Republik Irland durchgeführt wird.
Sogar in Wales wächst die Zustimmung zur Unabhängigkeit. Besonders bitter für Johnson: Fast die Hälfte der Engländer wäre nicht traurig (28 Prozent) oder würde es sogar begrüßen (17), gingen die Schotten ihrer eigenen Wege.
London plant Kampagne für die Union
Kampflos allerdings wird Johnson dem Zerfall des Königreichs nicht zuschauen. Er hat eine Taskforce gegründet, die von einem der wichtigsten Brexit-Unterhändler angeführt wird und Möglichkeiten ausloten soll, die Abspaltung Schottlands zu verhindern. Mit einer groß angelegten Kampagne will London die Schotten von den Vorzügen des von EU-Fesseln befreiten Königreichs überzeugen. Fruchtet das nicht und sollte ein Referendum unausweichlich sein, will Downing Street Edinburgh weitere Steine in den Weg rollen.
Kleiderordnung: Souvenirshop in Edinbugh
Foto: SUZANNE PLUNKETT/ REUTERS
So könnte London versuchen zu erzwingen, dass ein Unabhängigkeitsvotum erst ab 60 Prozent der abgegebenen Stimmen bindend wäre. Oder auf dem Wahlzettel könnte als dritte Option neben Gehen oder Bleiben ein sehr viel größerer Autonomiestatus für Schottland stehen.
Wie genau das funktionieren würde, lotet derzeit auch einer von Johnsons Vorgängern aus. Labour-Mann Gordon Brown, ein Schotte, hat sich dafür zuletzt aus der politischen Versenkung zurückgemeldet. Mit Johnson verbindet ihn die Angst vor einer Balkanisierung seines Heimatlandes.
Um diese zu verhindern, müsse die Regierung schnell und entschlossen die Fundamente des Staates erneuern, schrieb Brown jüngst im »Daily Telegraph«: »Wir stehen vor der Wahl zwischen einem reformierten Staat oder einem ›failed state‹.«