Nach Skandal um Top-Politiker Wollen die Schotten noch die Unabhängigkeit – und wenn ja, wie viel?

Nicola Sturgeon: Schottlands Regierungschefin und vorderste Unabhängigkeitskämpferin
Foto: Jeff J Mitchell / dpaBis vor Kurzem standen die Zeichen auf Unabhängigkeit: Schluss mit den Ansagen aus London, Schluss mit dem Ärger um den Brexit und seine Nachwehen – und Schluss mit dem Corona-Chaos unter der Führung von Boris Johnson. Die Mehrheit der Schotten war zuletzt dafür, das Vereinigte Königreich zu verlassen.
Nun aber haben sich die Verhältnisse umgekehrt. Mit 46 zu 43 Prozent würden die Schottinnen und Schotten doch für den Verbleib bei den Briten stimmen, sollte ein entsprechendes Referendum stattfinden. Das ergab eine repräsentative Umfrage im Namen der »Scotland on Sunday«.
Schuld an dem vermeintlichen Sinneswandel ist ein Skandal um den ehemaligen Ersten Minister des Landes, Alex Salmond, in den die derzeit regierende Erste Ministerin Nicola Sturgeon zunehmend hineingezogen wird. Salmond war über 20 Jahre lang Parteivorsitzender und musste sich wegen sexueller Übergriffe und versuchter Vergewaltigung verantworten. Salmond wurde freigesprochen. Unklar blieb jedoch, ab wann Sturgeon von den Vorwürfen gegen ihn wusste und wie angemessen sie als Regierungschefin reagierte. Dass das alles ein von ihr angezettelter Komplott gegen Salmond gewesen sei, weist die Regierungschefin als »absurd« zurück.
Absolute Mehrheit bei der Wahl im Mai möglich
Sturgeon setzt sich leidenschaftlich für die Loslösung ihres Landes von Großbritannien ein und fordert eine entsprechende Abstimmung. Salmond hatte schon 2014 ein erstes Referendum zur Unabhängigkeit bewirkt, das allerdings mit 55 Prozent zugunsten des Verbleibs im Vereinigten Königreich ausfiel. Mit der negativen Presse über ihn, Sturgeon und die Scottisch National Party (SNP) schwindet nun augenscheinlich auch der Rückhalt für die aktuellen Pläne zur Unabhängigkeit.
Allerdings zeigen die Umfragewerte nur scheinbar einen Sinneswandel der Schottinnen und Schotten – in Wirklichkeit bleibt die Unabhängigkeit als Thema wohl so wichtig wie zuvor.
Einerseits schwanken die Umfragewerte schon seit Monaten mit einer marginalen Mehrheit für oder gegen den Austritt aus der britischen Staatengemeinschaft. Die aktuelle Zustimmung für den Verbleib ist also wohl vor allem eine Momentaufnahme unter dem Einfluss des Salmond-Skandals.
Andererseits lassen ähnliche regionale Unabhängigkeitsbewegungen in Irland, Spanien oder der ehemaligen Sowjetunion erahnen, dass sich diese nicht aufgrund der Empörung über einen – zumal mittlerweile entmachteten – Politiker in Luft auflöst.
Das konnte auch ein Entgegenkommen Londons bisher nicht bewirken: Tony Blair hatte mit der »Devolution« einen teilweisen Machttransfer von London hin zu den Landesparlamenten in Schottland, Wales und Nordirland eingeleitet. Insbesondere Boris Johnson untergrub das Vertrauen der Schotten in die Abmachung aber, als er sie als »Blairs größten Fehler« bezeichnete, und die Machtverteilung ein »Desaster nördlich der Grenze« schimpfte.
Zudem ist die Unabhängigkeitsbewegung durch die regierende SNP stark im Parlament in Edinburgh vertreten. Dort verfügt die Partei über 61 von 129 Sitzen, mehr als doppelt so viel wie die auf Platz zwei liegenden Konservativen. Voraussichtlich wird die SNP sogar noch an Stärke zulegen: Für die schottischen Parlamentswahlen im Mai prognostizieren Meinungsforscher ihr nunmehr 72 Sitze und somit die absolute Mehrheit. Sollte dies geschehen, so versprach Sturgeon, werde sie Premier Johnson eine Volksabstimmung abringen – und sie notfalls auch ohne seine Einwilligung durchführen.
Was genau soll »die Unabhängigkeit« sein?
Unklar bei all den Rufen für und gegen die Unabhängigkeit bleibt allerdings ein zentraler Punkt: Was genau verstehen die Schotten und ihre Regierung eigentlich darunter? Welche Währung soll Schottland als unabhängiger Staat haben, wer soll Staatsoberhaupt sein, wie hart sollen Grenzen zu Großbritannien sein, wie die wirtschaftlichen Verflechtungen aussehen – und wie sicher wäre ein neuerlicher Eintritt in die EU?
Die Erinnerung an den Brexit müsste der schottischen Regierung eigentlich eine Erinnerung daran sein, dass sich der Austritt Schottlands aus Großbritannien ebenso wie dessen Austritt aus der EU nicht gut mit einer Ja-Nein-Frage klären lässt. Den Briten jedenfalls hat ihr Referendum jahrelanges Chaos, wirtschaftliche Schäden und internationale Verwerfungen beschert – genau die Missstände, die Sturgeon mitunter als Gründe für die Unabhängigkeit führt.