Gescheiterte Volksinitiative in der Schweiz Sieg der Vernunft über die Angst

Jubelnde Gegner der Volksinitiative: Ein Viertel der Einwohner wäre betroffen gewesen
Foto: Lukas Lehmann/ dpaEine solche Niederlage musste die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) schon lange nicht mehr einstecken. Die Schweizer sagten mit einem unerwartet deutlichen Stimmenanteil von 58,9 Prozent "Nein" zu ihrer "Durchsetzungsinitiative".
Mit der Volksinitiative wollte die SVP in der Verfassung festschreiben, dass Ausländer auch bei geringfügigen Vergehen automatisch abgeschoben werden müssen - ohne Einzelfallprüfung und ohne Ermessensspielraum für einen Richter. Ein Viertel der Einwohner wäre von den Regelungen betroffen gewesen, denn sie verfügen nicht über die Schweizer Staatsbürgerschaft.
Der heutige Tag ist deshalb ein überraschend klarer Sieg für die liberalen Kräfte in der Schweiz, aber er ist auch ein Signal an Europa: Trotz des aufgeheizten Klimas in der Flüchtlingsfrage erteilt die Schweizer Bevölkerung einer unverhältnismäßig harten, gegen Ausländer gerichteten Initiative eine Absage. Dem Nein war einer der leidenschaftlichsten, aggressivsten und intensivsten Abstimmungskämpfe der jüngsten Zeit vorausgegangen - und für einmal hieß die Siegerin am Ende nicht SVP.
Ihre Niederlage hat den Schweizern gezeigt, dass die wählerstärkste Partei des Landes in Volksabstimmungen nicht unbesiegbar ist, obwohl es in jüngster Zeit manchmal so schien - gerade wenn es um die Einschränkung der Zuwanderung oder die Verschärfung des Strafrechts für Ausländer ging.
Konsensdemokratie drohte, aus dem Gleichgewicht zu geraten
Seit 2009 haben die Schweizer folgende SVP-Initiativen angenommen: "Gegen den Bau von Minaretten" (57 Prozent stimmten mit Ja), "für die Ausschaffung krimineller Ausländer" (53 Prozent stimmten mit Ja) und "gegen Masseneinwanderung" (50,3 Prozent stimmten mit Ja). Jedes Mal stand die SVP mit ihren Begehren allein gegen alle übrigen Parteien von Mitte-Rechts bis Links, und jedes Mal siegte sie - obwohl ihr Wähleranteil nur bei 30 Prozent liegt.
Ein entscheidender Grund für diese Erfolge war sicherlich, dass die Partei als einzige Kraft vermeintlich Lösungen anzubieten schien, während viele Schweizer die hohe Zuwanderung zunehmend kritisch sahen und eine Gefährdung ihres Wohlstandes befürchteten - auf diese Weise gerieten die Mitte-Links-Parteien dauernd in die Defensive: Alles was ihnen blieb, war, die radikalen Vorschläge der SVP zu bekämpfen, doch zuletzt bleiben sie damit meist erfolglos.
Angesichts der Vielzahl der Niederlagen konnte man ins Grübeln geraten, ob die SVP womöglich dabei sei, das System Schweiz zu sprengen: Gegen das professionelle Polit-Marketing der SVP, die dank dem Milliardär und Partei-Übervater Christoph Blocher über fast unerschöpfliche Mittel verfügt, schien es kein Gegenmittel zu geben.
Der strategischen Klugheit und aggressiven Ideologie der SVP stand die politische Kraftlosigkeit der Mitte-Links-Parteien gegenüber. Die Schweizer Konsensdemokratie, in der eine in der Regel pragmatisch entscheidende Bevölkerung das letzte Wort hat, schien auf gefährliche Weise aus dem Gleichgewicht zu geraten.
Mit nüchternen Argumenten war den hochemotionalisierten Anliegen der SVP oft nur schwer beizukommen. Bei der sogenannten "Masseneinwanderungsinitiative" behauptete die SVP vor zwei Jahren beispielsweise: Die Zuwanderung aus der EU lasse sich mit festen Quoten einschränken, ohne dass dadurch die bestehenden Abkommen gekündigt werden müssten - das war falsch, aber es folgte keine überzeugende Gegenwehr der übrigen Parteien. Durch die Initiative ist das Verhältnis der Schweiz zur EU bis heute stark belastet.
Neuartige Mobilisierung der Zivilgesellschaft
Auch bei der "Durchsetzungsinitiative" fiel die Antwort der übrigen Parteien und der Wirtschaftsverbände zunächst lau aus - und so betrug die Zustimmung zu der Initiative im vergangenen Herbst laut Umfragen noch 66 Prozent.
Doch dann geschah etwas bisher nie Dagewesenes: Es bildete sich eine schlagkräftige Bewegung aus der Zivilgesellschaft. Es kam zu öffentlichen Appellen von Rechtsprofessoren und Prominenten, zu einer fantasievollen und viralen Kampagne in sozialen Netzwerken. Die Gegenkampagne kam nicht aus dem politischen Establishment, sondern von einfachen Bürgern und jungen Studenten. Plötzlich sah sich die SVP, die sich sonst gerne für das Volk hält, einer massiven Volksbewegung gegenüber. Sie appellierte an den common sense der Schweizer und sorgte für eine effektive Aufklärung über die Auswirkungen der Initiative - und die Zustimmung ging seither massiv zurück.
Diese neuartige Form der Mobilisierung zeigte Wirkung: Auch in eher konservativen und ländlichen Gebieten der Schweiz setzte sich die Erkenntnis durch, dass es auf absurde Weise unverhältnismäßig wäre, einen in der Schweiz geborenen Ausländer wegen zwei Bagatelldelikten automatisch in eine ihm unbekannte "Heimat" abzuschieben - und Richtern keinerlei Ermessensspielraum bei ihrer Entscheidung mehr zu lassen. Und viele Bürger schienen das Argument zu akzeptieren, dass die Initiative der SVP den Rechtsstaat gefährdete.
SVP bleibt taktisch in der Offensive
Schließlich hatte die Bevölkerung bereits vor zwei Jahren die "Ausschaffungsinitiative" der SVP angenommen und damit die Abschieberegeln deutlich verschärft. Eine Mehrheit vertraute nun offenbar darauf, dass die Justiz diese Regeln, die noch nicht einmal in Kraft sind, auch umsetzt.
Die SVP wollte dagegen aus Misstrauen gegenüber der Justiz mit ihrer erneuten Initiative vorab eine weitere Verschärfung erreichen - das sahen viele Bürger als "Zwängerei" an, wie man in der Schweiz eine übertriebene politische Starrköpfigkeit nennt. Die Gegenkampagne schaffte es aber auch, unerwartet viele Bürger zu mobilisieren: Mit 62 Prozent der Stimmberechtigten gingen so viele Schweizer zur Abstimmung wie seit Jahren nicht.
Was zeigt das Ergebnis? Die Schweiz ist ein politisch zutiefst polarisiertes Land - und an diesem Sonntag hat die liberale Schweiz seit langer Zeit wieder einmal über die rechtskonservative Schweiz gesiegt, weil sie die besseren Argumente hatte und damit die Mehrheit der Bevölkerung überzeugte. Das ist auch für künftige Abstimmungskämpfe eine wichtige Lehre, denn die nächsten Volksinitiativen der SVP kommen bald. Schon im Juni werden die Schweizer über das neue Asylgesetz abstimmen. Dann wird sich auch zeigen, ob sich die erfolgreiche Graswurzelkampagne der vergangenen Woche wiederholen lässt.
Denn die Strategie der SVP bleibt auch in Zukunft dieselbe: Einerseits sitzt sie als Teil einer All-Parteien-Koalition in der Regierung, andererseits will sie mit populistischen Volksinitiativen die Deutungshoheit und politische Wirkungsmacht im Land an sich reißen. Sie bleibt mit dieser Taktik in der Offensive, die Gegner in der Defensive. Um diese Mechanik aufzubrechen, brauchen die Gegner der SVP in der Schweiz aber mehr als einen Sieg - sie brauchen eine Strategie.
Und das ist letztlich auch die Herausforderung vor der ganz Europa steht: Populistische Bewegungen, die in krisenhaften Zeiten lautstark an die Emotionen der Bürger appellieren, haben es sehr viel leichter als jene Kräfte, die eine pragmatische Politik verfolgen wollen. Die Niederlage der SVP an diesem Sonntag in der Schweiz ist deshalb auch ein Hoffnungsschimmer für all jene, die daran glauben, dass es Mehrheiten für eine Politik gibt, die sich nicht an der Angst, sondern an der Vernunft orientiert.