Schweizer gegen Zuwanderung Europas mutigste Demokraten

Schweizer Fahne (Archivbild): Votum sorgt für hitzige Debatten
Foto: Rainer Jensen/ dpaDie donnernden Reaktionen auf den Schweizer Volksentscheid sagen einiges über den Absender. Wenn der deutsche SPD-Politiker Ralf Stegner den Nachbarn "geistige Abschottung" und "Verblödung" diagnostiziert, stellt sich die Frage: Was für ein Demokratieverständnis hat dieser Mann? Wenn Zeitungskommentatoren das Votum mit "Fremdenhass" deuten, möchte man ihnen zurufen: Redet zuerst mit den Menschen in diesem angeblichen Rassisten-Nest.
Sie könnten, beispielsweise, in ihren liebsten Urlaubskanton fahren, in das Tessin. Dort waren es keine Rechtspopulisten, sondern die Grünen, die an vorderster Front für die Einwanderungsinitiative kämpften. Weil die Personenfreizügigkeit zu einer "sozialen Katastrophe" führe - zu Lohndumping und Ausbeutung italienischer Arbeitskräfte.
Applaus von der falschen Seite
Das knappe Volks-Ja wäre allein mit den Stimmen der konservativen SVP, die die Abstimmung "gegen die Masseneinwanderung" initiiert hat, niemals möglich gewesen. Die SVP hat einen Wähleranteil von gerade einmal 25 Prozent. Für eine Mehrheit brauchte es also weitere 25 Prozent. Eben Grüne. Oder den bürgerlichen Mittelstand, der in den Boom-Regionen keine bezahlbaren Wohnungen mehr findet.

Patrik Müller, 38, ist seit 2007 Chefredakteur der "Schweiz am Sonntag", mit 203.000 Exemplaren die größte abonnierte Sonntagszeitung der Schweiz. Der Ökonom war davor für die "SonntagsZeitung" und den "SonntagsBlick" tätig.
Oder aber linke Wachstumskritiker wie den Sozialdemokraten Rudolf Strahm. Er hält die Personenfreizügigkeit für ein "neoliberales und menschenverachtendes Konzept", weil auf dem Binnenmarkt Europa die Arbeitnehmer wie Güterwagen hin- und hergeschoben würden. An solche Motive haben Frankreichs Front national und die österreichische FPÖ wohl kaum gedacht, als sie am Sonntag eilig applaudierten.
Ein mutiges Volk
"Ja" zu stimmen zur SVP-Initiative, das brauchte Mut. Denn die Drohungen von der Regierung, den Wirtschaftsverbänden und der EU waren unüberhörbar: Wehe, wenn ihr es wagt! Dann riskiert ihr die bilateralen Abkommen mit der EU, den alleinigen Grund für den wirtschaftlichen Wohlstand der Schweiz.
Das Volk hatte diesen Mut, wahrscheinlich ist es sogar Kühnheit. Im Gegensatz zur Regierung, die es in all den Jahren nicht einmal wagte, nach Brüssel zu reisen und über die Probleme der Personenfreizügigkeit zu reden. Bevor diese im Jahr 2000 schrittweise eingeführt wurde, hatte die Regierung 10.000 Einwanderer pro Jahr prognostiziert. Effektiv kamen dann 80.000. Das entspricht einem Prozent der Gesamtbevölkerung, etwa dreimal so viel wie die Nettoeinwanderung nach Deutschland. Das ginge in keinem Industrieland der Welt lange gut.
Der Ausländeranteil steigt und steigt, er beträgt aktuell 23,4 Prozent (in Deutschland: neun Prozent). Er wäre noch viel höher, wenn die Schweiz nicht großzügig Ausländer einbürgern würde - jedes Jahr 40.000 (in Deutschland: 100.000, bei zehnmal größerer Bevölkerung).
Kühn aus Erfahrung
In früheren Abstimmungen haben die Schweizer die liberale Migrationspolitik gutgeheißen, vor allem, weil sie der Wirtschaft nützte. Jetzt aber nehmen sie in Kauf, auf Wirtschaftswachstum zu verzichten. Wichtiger als die BIP-Raten ist ihnen die Bewahrung ihrer Identität, ihres Lebensraums, ihrer Lebensqualität. Sie sind nicht gegen Ausländer, sie wollen aber nicht zu viele.
"Die Einwanderung selber steuern" war das wichtigste Argument in den Debatten. Es überzeugte, weil es an den Unabhängigkeitswillen appelliert, der Teil der helvetischen DNA ist. Dieser Unabhängigkeitswille führt nicht zum ersten Mal zu einem kühnen Entscheid: 1992 lehnte das Volk den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR ab, trotz Drohungen, die Arbeitslosigkeit werde auf 20 Prozent steigen und die Schweiz in Europa isoliert.
Die Reaktionen waren auch damals donnernd, doch es kam anders, es kam gut. Die Schweizer haben am Sonntag darauf gewettet, dass sich die Geschichte wiederholt.