Sderot unter Dauerbeschuss Der Ort, in dem die Angst regiert
Sderot - "Rote Farbe, rote Farbe", schallt eine tiefe Frauenstimme aus dem Lautsprecher. Und jeder in Sderot weiß: eine Kassam-Rakete ist unterwegs. Weniger als eine Minute bleibt, um sich vor dem Geschoss in Sicherheit zu bringen. Panik. Die Leute rennen und suchen Schutz: In einem Keller, in einem provisorischen Unterstand oder hinter einer Mauer.
Wer im Auto sitzt, reißt die Tür auf und wirft sich auf den Boden. Wer im Café ist, sucht unter Tischen Schutz. Wer beim Einkaufen ist, lässt alles stehen und flüchtet. Kinder schreien und suchen verzweifelt ihre Mütter.
"So geht das nun schon seit sieben Jahren", sagt später ein älterer Mann, der sich als Haim vorstellt, "Palästinenser aus dem nahen Gaza-Streifen greifen Sderot mit Kassam-Raketen an." Es sei wie russisches Roulette: Niemand wisse, wo und wann es ihn treffe.
Haim wohnt seit 28 Jahren in Sderot, einer Stadt mit rund 20.000 Einwohnern. "Das heißt, so viel waren es einmal", präzisiert er, "viele haben die Stadt verlassen, auch mein Sohn wohnt nicht mehr hier". Der sei mit seiner Familie nach Haifa gezogen, weil es ihm in Sderot zu gefährlich war. "Es ist die Hölle", meint Haim, "wir sind nirgends sicher". Bei seinen Nachbarn sei eine Kassam-Rakete durchs Dach ins Wohnzimmer gedrungen. Weil die Familie... - Haim kann seine Story nicht zu Ende erzählen, denn schon kündigt die eindringliche Stimme die nächste Kassam an. "Rote Farbe, rote Farbe" als ob jemand irgendwo im Gaza-Streifen beweisen wollte, dass Sderot tatsächlich ein gefährliches Pflaster ist.
Haim wirft sich auf den Boden, da keine schützende Mauer in Sicht ist. Das Geschoss schlägt ganz in der Nähe ein. Schnell hört man Sirenen von Sanitätswagen und Polizeifahrzeugen.
Dieses Mal hat es die Familie Seruya erwischt. Die 67-jährige Varda hat gerade einen Eintopf fürs Wochenende vorbereitet. Sie kann gerade noch ins Wohnzimmer stürzen, da schlägt die Kassam in der Küche ein, und zwar dort, wo sie eben noch gekocht hat. Die plötzlich hereinbrechende Katastrophe erschüttert sie und die Familienmitglieder seelisch. Sie werden im Spital auf Schock behandelt.
"Wer will schon in Sderot investieren?"
Haim sucht jetzt einen Käufer für seine Wohnung: Er will zu seinem Sohn ziehen. Doch die Immobilienpreise seien im Keller, meint Haim mit traurigem Blick: "Wer will heute schon in Sderot investieren?"
Ein Drittel der Bewohner ist in den vergangenen Jahren aus der Stadt geflüchtet, schätzen Lokalpolitiker. Bei den "Auswanderern" handelt es sich in der Regel um die Besten der Stadt: Ergeizige Unternehmer, strebsame Jungakademiker, gut situierte Familien. Als Kanonenfutter bleiben die Schwächsten der Schwachen zurück: Die Armen, die Alten, die Abgeschobenen.
Sderot ist eine Arbeiterstadt, in der rund 40 Prozent der Bewohner erst in den neunziger Jahren zugezogen sind meist aus der ehemaligen Sowjetunion oder aus Äthiopien. "Das war hier einst ein Paradies", schwärmt die 40-jährige Hausfrau Yivgena, "aber jetzt? Unsere Kinder leben in beständiger Angst und wagen sich kaum auf die Straße". Jedes Mal, wenn sie das Haus verlassen, müssen sie damit rechnen, von einer Rakete getroffen zu werden.
Das Klima der Angst macht jeden zum Hardliner
Die meisten 4- bis 18-jährigen Schüler leiden unter post-traumatischen Stresssymptomen, meinte kürzlich ein Experte im Israelischen Zentrum für Terror- und Kriegsopfer. Überdurchschnittlich viele Kinder sind als Bettnässer registriert, haben Konzentrationsprobleme in der Schule oder stressbedingte Asthmaanfälle. "Sogar die Vögel sind hier weggezogen", meint Yivgena. Sderot wirkt wie eine Geisterstadt. Nur am Wochenende sind die Straßen voll: Israelis aus Tel Aviv, Jerusalem oder Netanja kommen nach Sderot, um ihre Solidarität mit ihren Kassam-geplagten Mitbürgern zu zeigen.
In diesem Klima der Angst wird jeder zum Militärspezialisten und Hardliner. "Es ist eine Schande, dass unsere Armee den Terror der Kassam-Raketen so lange tatenlos hingenommen hat", meint Haim. Für den ehemaligen Panzerfahrer gibt es nur ein Mittel, um den Raketenbeschuss zu beenden: "Wenn wir leiden, soll es auch den Leuten in Gaza schlecht gehen". Die Armee sollte jede Kassam-Rakete mit der Zerstörung eines Hauses in Gaza beantworten, findet er. Man müsse Gaza "vom Terror reinigen". Man dürfe keine Rücksicht darauf nehmen, was die Welt darüber sagen werde. Ausschlaggebend sei einzig und allein, was Israel diene. Und dann sagt Haim: "Die Zahl der palästinensischen Opfer darf in Israel kein Argument sein, so lange Sderot nicht sicher ist".
In der Bevölkerung ist der Sinn des Militäreinsatzes zwar umstritten, wenn man Umfragen glauben will. 64 Prozent der Israelis unterstützen Gespräche mit der Hamas-Regierung. Auch viele Politiker und hohe Offiziere vertreten neuerdings die Ansicht, wonach ein Dialog mit der Hamas einer martialischen Konfrontation vorzuziehen sei.
Für Kritiker der Militäraktion, die am Wochenende begann, hat man in Sderot indes wenig Verständnis. Zumal jetzt auch die Stadt Aschkelon mit ihren 120.000 Einwohnern angegriffen wird. Wenn die Armee in Gaza nicht hart durchgreife, könnte nicht nur Sderot fallen, befürchtet er. Dann wären auch Städte wie Aschkelon, Aschdod und schließlich Tel Aviv an der Reihe. Dass in Gaza mehrere Dutzend Todesopfer zu beklagen sind, darunter viele Kinder, nimmt man in Sderot ebenso hin wie die Tatsache, dass Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon die "unverhältnismäßige Gewaltanwendung"der israelischen Armee verurteilt. Und während der dröhnende Lärm von Kampfhelikoptern zu hören ist, die Kurs auf Gaza nehmen, lobt Haim "die gute Arbeit" der Sicherheitskräfte.
Pierre Heumann ist Nahost-Korrespondent der Schweizer "Weltwoche"