Selbstmordbomber auf dem Schulweg "Ich will nie wieder Metro fahren"

Sonya Köster: "Ich träume jetzt manchmal von der Metro"
Foto: SPIEGEL ONLINEMoskau - Sonya Köster, 14, besucht seit zwei Jahren die französische Schule in Moskau, ihr Vater arbeitet in der deutschen Botschaft. Die Schule liegt an der Metrostation "Lubjanka" im Zentrum der russischen Hauptstadt. Sonya fährt jeden Morgen mit der U-Bahn zum Unterricht. Am Montag verpasste sie ihren Zug - und entging so den Bomben von zwei Selbstmordattentäterinnen. Um 7.56 Uhr Moskauer Zeit explodierte der erste Sprengsatz in der Station "Lubjanka", um 8.38 Uhr ging die zweite Bombe in der Station "Park Kultury" hoch. Insgesamt starben 39 Menschen.
"Jeden Morgen steige ich an der Station 'Universität' in die Moskauer Metro, um 7.40 Uhr, seit zwei Jahren. Von dort fahre ich zu meiner Schule an der Haltestelle 'Lubjanka', die Fahrtzeit beträgt knapp 20 Minuten. Ich wäre also genau dann angekommen, als die Bombe dort explodierte. Die erste.
Ich war am Wochenende irgendwie nervös. Wir waren am Samstag in der U-Bahn unterwegs. Ich habe einen Mann gesehen, der etwas unter einer Bank suchte und habe im Scherz gesagt: Vielleicht sucht er ja eine Bombe.
Am Sonntag war ich aufgekratzt, ich konnte nicht einschlafen. Ich habe bis drei Uhr nachts wach gelegen und im Internet gesurft, Facebook. Am nächsten Morgen habe ich prompt verschlafen, ich war dann zu spät dran.
Ich bin eine Viertelstunde später in die Metro eingestiegen. Sonst war eigentlich alles wie immer. Es war voll, ich hatte nur einen Stehplatz. Ich habe Musik gehört mit meinem iPhone, 'Hotel Room Service' von Pitbull. Wir sind nicht weit gekommen. Ab der Station 'Frunzenskaja' fuhr der Zug nur noch stop and go. Ich habe dauernd auf die Uhr geschaut. Ich war ja spät dran. Gegen 8.15 Uhr haben wir die Station 'Park Kultury' erreicht. Es war sehr voll.
Niemand wusste, was los war. Niemand hat uns gesagt, dass an der 'Lubjanka' eine Bombe explodiert ist. Niemand hat gesagt, dass wir die Metro verlassen sollen.
Ich konnte die Treppenstufen nicht sehen vor lauter Menschen
Jemand hat dann einen Anruf bekommen, die Menschen sind nervös geworden, es gab Panik. Aber mein Russisch ist nicht so gut, ich wusste immer noch nicht, was los war. Es gab Durchsagen, dass wir in eine andere Linie umsteigen sollen, der Zug fahre nicht weiter. Aber irgendwie haben alle gehofft, dass es doch noch weitergeht.
Um 8.38 Uhr ist dort die zweite Bombe explodiert. Ich habe die Station nur Minuten vorher verlassen, gegen 8.25 Uhr, und mich in den Zug einer anderen Linie gesetzt.
Es war unglaublich voll auf der Ringlinie. An der Station 'Prospekt Mira' bin ich ausgestiegen. Man hat die Menschenmassen durch Absperrgitter geleitet. Ich bin fast hingefallen, weil ich die Treppenstufen nicht sehen konnte vor lauter Menschen. Das war gegen neun Uhr. Mein Vater hat mir später erzählt, dass es um neun Uhr in den Nachrichten hieß, es sei eine dritte Bombe explodiert, genau dort, wo ich war: am 'Prospekt Mira'. Zum Glück war es eine Falschmeldung.
Ein Mädchen aus der siebten Klasse meiner Schule war in einem der Züge, in dem eine Bombe explodiert ist. Sie saß im fünften Wagen, die Selbstmordattentäterin war im zweiten.
Ich habe Angst, verstümmelt zu werden
Ich träume jetzt manchmal von der Metro. In meinen Träumen sitze ich. Neben mich tritt eine Frau, schwarze Haare, dunkles Kleid. Ich kann nicht genau sagen, wie sie aussieht. Aber sie ist hässlich, und sie ist nervös. Ich stehe dann auf, ich gehe an das andere Ende des Wagens. In meinem Traum weiß ich, dass sie eine Bombe hat. Dann sehe ich mich, und ich bin voller Blut. Ich fürchte mich nicht besonders vor dem Sterben. Aber ich habe Angst, verstümmelt zu werden.
Ich hasse die jetzt. Ich habe gehört, dass sie ihre Unabhängigkeit wollen, auch, dass es Krieg gab und viele tote Männer. Die Frauen wollen jetzt Rache, heißt es, aber ich verstehe das trotzdem nicht.
Mein Vater fährt mich seit Montag mit dem Auto zur Schule, aber er ist dafür fast eine ganze Stunde unterwegs. Über Ostern fahren wir erst einmal nach Nizza, meine Mutter stammt aus Frankreich. Aber mein Vater überlegt jetzt, ob die Familie vielleicht nach Deutschland oder Frankreich ziehen sollte.
Manche Plätze in Moskau kann man nicht meiden, wenn man hier lebt. Die Metro gehört dazu. Ich will aber nie wieder Metro fahren."