Sexismus Warum der Fall Brüderle in den USA unmöglich wäre

FDP-Politiker Brüderle: In den USA wäre er politisch so gut wie erledigt
Foto: dapdWer als Deutscher in den USA lebt, muss den Amerikanern immer wieder Kuriositäten unseres Politikbetriebs erläutern: weshalb wir Bundespräsidenten aus Orten namens Großburgwedel rekrutieren, wieso im Bundeskabinett plagiierte Doktorarbeiten zum wahrscheinlichsten Rücktrittsgrund geworden sind - und warum ein ehemaliger Bundeskanzler sich bei einem russischen Staatskonzern verdingen muss, um über die Runden zu kommen.
Alles keine einfachen Aufgaben. Doch ein Kinderspiel verglichen mit dem Fall Brüderle. Bei dem weiß ein normaler Deutscher gar nicht mehr, wo der kulturelle Erklärungsversuch ansetzen soll. Vielmehr muss man weiter ausholen. Die amerikanische Verwirrung setzt nämlich bereits bei dem Umstand ein, dass der FDP-Hoffnungsträger und die "Stern"-Reporterin Laura Himmelreich sich vor rund einem Jahr in einer Hotelbar in Stuttgart abends überhaupt so nah kommen konnten.
In den USA sind derlei feucht-fröhliche Abende zwischen Berichterstattern und den prominentesten Objekten ihrer Berichterstattung nicht einfach ungewöhnlich. Sie sind so gut wie unmöglich.
Die Zeiten, als der legendäre "Washington Post"-Journalist Ben Bradlee mit Präsident John F. Kennedy durchs Nachtleben von Washington zog und dessen Affären diskret verschwieg, liegen Ewigkeiten zurück. Spätestens seit dem Watergate-Skandal stehen sich Spitzenjournalisten und Spitzenpolitiker in den USA wie Anhänger feindlicher Kriegslager gegenüber.
Wer Außenministerin Hillary Clinton auf Reisen begleitet, kann sich abends gerne an die Hotelbar setzen. Aber die Ministerin wird er dort unter keinen Umständen antreffen. Die Reporter vom früher so mächtigen White House Press Corps freuen sich auf Reisen schon, wenn sie den Präsidenten aus der Ferne erspähen. Mit ihm unter einem Dach übernachten dürfen sie ohnehin nicht. Ein ausgelassener Abend in fröhlichem Kreis von Journalisten und Amtsinhabern am Vorabend eines US-Parteitags? In Amerikas Politikbetrieb in aller Regel unvorstellbar.
Natürlich hat derlei Abschirmung Nachteile, denn sie lässt keinen Raum zum vertraulichen Gespräch, das der Demokratie guttut - genau wie die panische Angst vor Belästigungsklagen die Tätigkeit in US-Unternehmen bisweilen ähnlich entspannt wirken lässt wie Jogging in einem Minenfeld.
Man kann eine so klare Trennung aber auch professionell finden, denn Politiker und Journalisten können nicht Freunde sein - egal wie nett der Abend ist. Und wenn nur so auszuschließen ist, dass Journalistinnen zum Objekt angetrunkener und anzüglicher Politiker werden, muss man diese Grenzen auch bei uns klarer ziehen.
Weltmacht ist das beste Aphrodisiakum der Welt
Das bringt uns zum zweiten schwer zu erklärenden kulturellen Unterschied: wie ungeschickt jemand wie Brüderle aus amerikanischer Sicht sein muss, sich in schlüpfrigen Bemerkungen etwa über die Dirndl-Tauglichkeit einer Journalistin zu ergehen.
Das heißt nicht, dass Sex keine Rolle in der US-Politik spielt, wir wissen es alle besser. Im Gegenteil, Washington ist eine sexuell aufgeladene Stadt, weil Weltmacht das beste Aphrodisiakum der Welt ist - und selbst einfache Kongressabgeordnete oft wie Rockstars verehrt werden. Es leben hier Politiker, die eindeutige Fotos von sich tweeten. Im Kongress sitzen überführte Ehebrecher und Prostituiertenkunden, die unbeirrt über Familienwerte dozieren.
Oft ist die Schlüpfrigkeit in der US-Hauptstadt also mit Händen zu greifen, auch die Heuchelei. Doch anders als in Deutschland oft angenommen, bedeutet ein sexueller Fehltritt hier nicht zwangsläufig das Karriereende, wie am Beispiel Bill Clinton bestens zu sehen ist. Der leistete sich als Präsident die wohl peinlichste Affäre, die vorstellbar ist - Stichworte: Praktikantin! Zigarre! Blaues Kleid! Im Oval Office! - und gilt heute in Amerikas Öffentlichkeit wieder als einer der großartigsten Wohltäter der Menschheit.
Die Amerikaner verstehen aber gar keinen Spaß, wenn sie den Eindruck gewinnen, ein Politiker behandele Frauen herablassend, degradiere sie gar zum Objekt - wie der glücklose Republikaner-Bewerber Mitt Romney soeben im Wahlkampf lernen musste. Er verstrickte sich in seltsamen Bemerkungen über die "Ordner voller Frauen", die er zur Rekrutierung weiblicher Mitarbeiterinnen konsultiere, was ihn als Kandidaten entlarvte, dessen Frauenbild aus der "Mad Men"-Ära zu stammen scheint. Entsprechend bescheiden fiel sein Ergebnis an der Urne aus.
Mag sein, dass die amerikanischen Brüderles einfach zu selten erwischt werden. Mag aber auch sein, dass Amerika in Sachen Umgang zwischen Politik und Journalistinnen einfach fortschrittlicher ist als wir.