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Journalistenmord in der Slowakei "Das ist kein normales Land"

Der Mord am Enthüllungsjournalisten Ján Kuciak stürzt die Slowakei in eine schwere Krise. Viele Menschen sehen die Politik in der Mitverantwortung und misstrauen den Mächtigen.

Das Verlagsgebäude von Ringier Axel Springer an der Prievozská-Straße in Bratislava wird in diesen Tagen von schwerbewaffneten Polizisten bewacht. Neben dem Eingang stehen Dutzende Kerzen vor Bildern des Journalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kusnírová, die vor zehn Tagen ermordet wurden. Viele Mitarbeiter halten hier inne, bevor sie ins Gebäude gehen.

Im ersten Stock befindet sich das Redaktionsbüro von "aktuality.sk", des Portals, bei dem Ján Kuciak arbeitete. Auf seinem Schreibtisch steht ein Strauß frischer Tulpen. Kuciaks Kollegen achten darauf, dass neben den Blumen immer eine Kerze für ihn und seine Verlobte brennt. Die Stimmung in der Redaktion ist gedrückt. Niemand lächelt, niemand spricht laut, die meisten Redakteure sitzen mit erstarrtem Gesichtsausdruck vor ihren Bildschirmen.

Gedenken an Ján Kuciak und seine Verlobte Martina Kusnírová

Gedenken an Ján Kuciak und seine Verlobte Martina Kusnírová

Foto: Jakub Kotian/ dpa

"Die Slowakei ist kein normales Land", sagt Peter Habara, 28, der zusammen mit Kuciak zu Korruptionsaffären recherchierte. Er findet kaum Worte, um seine Fassungslosigkeit über den Mord an seinem Kollegen und dessen Verlobter auszudrücken. "Es ist traurig", sagt Habara, "dass erst eine solche Tragödie geschehen musste, damit dieses Land aufwacht."

Tragödie weckt Erinnerungen an Gewalt

Zwar gibt es weder Hinweise auf die Mörder von Ján Kuciak und seiner Verlobten noch auf das konkrete Motiv. Doch es bestehen kaum Zweifel, dass die beiden wegen Kuciaks Recherchen ermordet wurden: Die belegen, dass mutmaßliche italienische Mafia-Mitglieder, von denen einige in der Slowakei bereits vorbestraft sind, bis vor Kurzem direkten Zugang zum innersten Machtzirkel des Landes hatten - über zwei der wichtigsten Berater des Regierungschefs Robert Fico.

Der brutale Mord sowie die danach bekannt gewordene Verbindung von hoher Politik und organisiertem Verbrechen, hat die Slowakei nicht nur in eine der tiefsten politischen Krisen seit ihrer Unabhängigkeit Anfang 1993 geführt. Vielen Menschen im Land ist plötzlich auch die Gewissheit abhanden gekommen, in einem verhältnismäßig gefestigten Rechtsstaat zu leben. Sie fühlen sich an die Herrschaft des Autokraten Vladimír Meciar in den Neunzigerjahren erinnert: Damals wurden politische Probleme mal mit Kidnapping, mal mit Autobomben gelöst.

Zwar verfügt Fico längst nicht über die kriminelle Energie eines Meciar, doch nach seinen jüngsten bizarren Auftritten attestieren ihm Kommentatoren "Kontroll- und Realitätsverlust". So hatte Fico letzte Woche vor der Presse eine Million Euro in Geldscheinen dabei - die Belohnung für Hinweise zum Mordfall Kuciak. Viele Zuschauer wähnten sich in einem Mafia-Film - nicht auf der Pressekonferenz eines Regierungschefs in einem EU-Land.

Angesichts dieser Stimmung spricht der Staatspräsident Andrej Kiska, früher Unternehmer, heute Philantrop und eine Art gutes Gewissen seines Landes, von einem "riesigen und berechtigten Misstrauen der Menschen in den Staat". Er sagt, dass "die Tragödie des Mordes an Kuciak und seiner Verlobten die slowakische Wirklichkeit widerspiegelt" und spricht von "etwas Schlechtem, das in den Grundfesten unseres Staates steckt".

Andrej Kiska beim Schweigemarsch

Andrej Kiska beim Schweigemarsch

Foto: VLADIMIR SIMICEK/ AFP

Als Kiska in einer Ansprache an das Land am Sonntag diese Diagnose stellte, forderte er auch Neuwahlen oder mindestens einen grundlegenden Umbau der Regierung, die von einer Koalition aus nationalistischen Sozialdemokraten, Rechtsnationalisten und einer Partei der ungarischen Minderheit getragen wird.

Doch Regierungschef Fico lehnte einen Rücktritt oder Neuwahlen ab und warf dem Präsidenten vor, seine Rede sei "außerhalb der Slowakei" geschrieben worden. Er wolle "das Land destabilisieren" und handele wohl im Auftrag des US-Börsenmilliardärs George Soros. In der Regierungskoalition und selbst in Ficos nationalistisch-sozialdemokratischer Partei SMER sorgt die Verschwörungstheorie für Kopfschütteln und Entsetzen. Das politische Chaos in der Slowakei ist damit derzeit komplett, viele Beobachter halten den Rücktritt des Regierungschefs nur noch für eine Frage der Zeit.

"Ficos Kampagne ist gefährlich"

"Es ist sehr gefährlich, dass Robert Fico jetzt eine Anti-Soros-Kampagne beginnt wie Orbán in Ungarn", sagt Beata Balogová, die Chefredakteurin von Sme, eine der größten unabhängigen Tageszeitungen der Slowakei, im Gespräch mit dem SPIEGEL. "Er sät Hass, spaltet das Land und begibt sich auf ein sehr niedriges Niveau."

Der Staatspräsident habe hingegen verstanden, dass die Politik eine moralische Verantwortung für diesen Mordfall trage. Die düstere Prognose des Staatspräsidenten über den Charakter des slowakischen Staates hält Balogová für berechtigt. "Wenn er Andeutungen über einen Mafia-Staat macht, heißt das nicht, dass wir in echt leben wie in einem Mafia-Film", sagt sie. "Es bedeutet, dass wir eine extrem arrogante Macht haben, die glaubt, sie sei unantastbar. Formell hält sie die Gesetze ein, aber sie sucht alle denkbaren Schlupflöcher für ihre Geschäfte, und sie benimmt sich unverschämt und zutiefst unmoralisch."

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Bei aller Trauer und Wut - die Tatsache, dass die Verhältnisse im Land nun mehr internationale Aufmerksamkeit erhalten, werten viele Journalisten als positiv. Die Slowakei hatte ein durchaus positives Image, Robert Fico pflegte nach außen in den vergangenen beiden Jahren einen proeuropäischen Diskurs und setzte sich damit explizit von Polen, Tschechien und Ungarn ab. "Dieser Diskurs war nicht ernst gemeint", sagt Matús Kostolný, der Chefredakteur der Tageszeitung Denník N, im Gespräch mit dem SPIEGEL. "Nach dem Mord kann niemand mehr sagen, nicht in der Slowakei und nicht außerhalb, er habe nicht gewusst, dass die Dinge so falsch laufen bei uns."

Solche Sätze werden wohl auch die Mitglieder einer hochrangigen Delegation des Europaparlamentes zu hören bekommen, die ab Donnerstag für mehrere Tage in die Slowakei reisen. Sie wollen sich zum Mordfall Kuciak informieren und auch selbst ermitteln. Peter Habara hofft, dass dies Druck auf die slowakische Regierung und die Behörden ausübt. Denn, wie er sagt: "Ich vertraue zwar den polizeilichen Ermittlern und glaube, dass sie Jáns und Martinas Mörder wirklich finden wollen. Aber ich vertraue nicht ihren Vorgesetzten in der Politik und an der Spitze der Behörden."

Im Video: Die Ndrangheta - Leben im Schatten der Mafia

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