Grubenunglück in der Türkei "Scher dich zum Teufel, Erdogan!"

(AP Photo/Emrah Gurel)
Foto: Emrah Gurel/ AP/dpaHatice steht auf wackligen Beinen. Seit bald 24 Stunden ist sie hier, beim Bergwerk etwas außerhalb von Soma, und wartet und wartet.
In der Nacht war sie kurz bei einer Freundin und hat versucht, sich zu erholen, auf dem Sofa, aber sie hat nicht in den Schlaf gefunden.
Mehr als 240 Menschen wurden schon tot geborgen, fast alle hat sie gesehen, aber ihr Mann war nicht dabei. Jedes Mal ist sie hingerannt zu der Absperrung, hat den Toten die Wolldecke vom Gesicht gezogen, um zu sehen, ob er es ist. "Ich werde nicht gehen, bis ich ihn wieder habe", sagt die 46-Jährige mit tränenerstickter Stimme. "Ich hoffe noch, dass ein Wunder geschieht und er lebend gefunden wird. Aber ich ahne, dass ich mit dem Schlimmsten rechnen muss."
Ein paar Meter weiter ist die Luke, dahinter ist ein Aufzug, der in die Tiefe führt. Sie haben ihn wieder in Gang bekommen. Die Armee sorgt dafür, dass die Angehörigen, die Schaulustigen, die Reporter nicht allzu nah kommen. Soldaten mit blauem Barett stehen dort Spalier und halten außerdem den Weg frei für die Bergungstrupps. "Wir stehen hier aber auch zu Ehren der Toten", sagt einer.
Schwarze Gesichter, schwarz vom Rauch und vom Schmutz

Explosion in Bergwerk: Die Türkei trauert um die Opfer des Grubenunglücks
Plötzlich hört man das Surren des Aufzugs. Ein paar Rettungskräfte stehen an der Luke. Sie hören genauer hin, dann ein Rufen. Jetzt ist der nächste Aufzug da. Sie öffnen die Tür zum Schacht, vier Männer schieben eine Bahre heraus, darauf ein Körper, in einer Decke gehüllt.
Ein unerträglicher Geruch, eine Mischung aus Feuer und Gas und Tod, steigt aus der Tiefe hervor. Der vierköpfige Trupp trägt die Leiche eine Treppe hinauf, über eine kleine Brücke, die über einen Zaun führt, dahinter wieder hinunter, zu den wartenden Krankenwagen. Ein anderer Trupp mit einer leeren Bahre steigt in den Aufzug und verschwindet nach unten. Sie nehmen Wasserflaschen mit.
"Sie bringen die Toten in ein Dorf, ein paar Kilometer von hier, nach Kirkagac", sagt Hatice. Dort sollen die Angehörigen sie identifizieren. "Verwandte von mir sind dort, aber ich will hier bleiben."
Mittlerweile lassen sie die Gesichter der tödlich Verunglückten schon unbedeckt, weil die Wartenden die Decken ohnehin wegziehen werden. Es sind schwarze Gesichter, schwarz vom Rauch und vom Schmutz. Manche sind bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, einige haben verzerrte Gesichter, andere sehen aus, als seien sie friedlich eingeschlafen.
Hatice stürzt nach vorn - doch wieder ist es nicht ihr Mann
Die Bergungstrupps tragen unterschiedliche Uniformen, es sind Leute von verschiedenen Organisationen aus dem ganzen Land. Seit Dienstagabend treffen sie nach und nach ein. Manche wurden abgelöst nach vielen Stunden Arbeit. Manche sind auch zusammengebrochen im Angesicht des Ausmaßes der Katastrophe. Auch jetzt haben Soldaten Tränen in den Augen.
Ein paar alte Männer, Väter und Onkel der Bergleute, hocken da und lassen ihre Gebetsketten durch die Hände gleiten.
Mit jeder Leiche geht ein Schluchzen durch die Menge, wieder stürmen Menschen vor und gucken, auch Hatice. Wieder ist es nicht ihr Mann. Sie hockt sich an den Rand und weint. Ihr Leiden kann man nur erahnen, gemischt mit dem Glück, dass ihr die Hoffnung noch nicht genommen wurde.
Doch am Grubenausgang warten keine Ärzte mehr, keine Sanitäter im eigentlichen Sinne, nur Bergungsleute.
Alle paar Minuten ein neuer Toter. Die Zahl 238, die noch am Nachmittag verkündet wurde, als Premierminister Recep Tayyip Erdogan vor Ort war, gilt schon lange nicht mehr. Es müssen viel mehr Leichen da unten sein.
"Dürfen wir unserer Trauer nicht Ausdruck verleihen?""
Ansonsten ist es ruhig am Bergwerk. Die meisten haben die Rede von Erdogan gehört. "Ich bin zu geschockt von der Situation, deshalb habe ich die Rede nur mit einem Ohr gehört", sagt ein geretteter Arbeiter. "Aber was ich gehört habe, scheint ziemlicher Unsinn gewesen zu sein." Andere pflichten ihm bei. Einer sagt: "Ich hätte so etwas bis jetzt nicht geäußert, aber nun möchte ich Erdogan nur sagen: Scher dich zum Teufel!" Ihnen stößt auf, dass Erdogan versucht hat, die Katastrophe herunterzuspielen, als sei so etwas normal in Bergwerken.
Ein paar Festnahmen gab es weiter oben, es waren aufgebrachte Demonstranten. Für Verärgerung sorgt, dass die Polizei mit großen Transportern anrückt, mit Helmen und Schutzschilden. "Vermutlich haben die auch Tränengas dabei", sagt Metin, ein Elektriker aus dem Ort. Im ganzen Land kommt es zu Demonstrationen, auch woanders kommt es zu Festnahmen. Die Menschen hier, an der Grube, verstehen das nicht. "Dürfen wir unserer Trauer und unserer Wut nicht Ausdruck verleihen?"
In Soma ist es still an diesem Mittwoch. Wie in der ganzen Türkei wehen die Flaggen auf Halbmast. Diejenigen, die nicht betroffen sind von der Katastrophe, die keinen Angehörigen dort unten haben, gehen ihren Geschäften nach.
Nur die vielen Krankenwagen mit den Toten, die durch die Stadt fahren, und die vielen Kolonnen mit dunklen Autos und Polizei, Politiker aus Ankara sowie lokale Größen, deuten darauf hin, dass hier die schlimmste Bergwerkskatastrophe in der Geschichte der Türkei geschehen ist. Morgen wird Staatspräsident Abdullah Gül erwartet.