Straßenschlacht, Festnahmen, Verletzte Ein Schreckens-Mai in Istanbul
Istanbul - Donnerstag, der 1. Mai 2008, wird als Schreckenstag in die Geschichte der Stadt Istanbul eingehen. Er wird den Menschen lange im Gedächtnis bleiben. Statt eines friedlichen 1. Mai gab es die schlimmsten Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und einem polizeilichen Massenaufgebot, die die Stadt seit vielen Jahren erlebt hat.
Die Szenen, die sich heute, am Donnerstag, um den Taksim-Platz in der Mitte der Stadt abspielten, erinnerten viele Istanbuler an die gewalttätigen siebziger Jahre, als Straßenschlachten zwischen Polizei und Demonstranten oft tödlich ausgingen. Am Ende hatten die rund 30.000 Polizeibeamten über 500 Demonstranten verhaftet, offiziell zehn Polizisten wurden verletzt und eine wesentlich größere, bislang nicht ermittelte Zahl von Demonstranten schwer lädiert.
"Staatsterror" in der Mitte von Istanbul
Die Gewerkschaften wollten dem "Blut-Mai" von 1977 gedenken, als die Polizei am 1. Mai insgesamt 36 Gewerkschafter niederschoss. Die Regierung hatte für den 1. Mai ein striktes Demonstrationsverbot erlassen - doch nun hat sie unfreiwillig zum Gedenken an den "Blut-Mai" wohl sehr viel stärker beigetragen, als eine bloße Demonstration dies getan hätte.
Der Vorsitzende des linken Gewerkschaftsdachverbandes DISK Süleyman Celebi sprach am Ende des Tages von "Staatsterror". Er hatte damit nicht ganz Unrecht. Die Polizei schoss mit Tränengasgranaten, trieb die Demonstranten mit Wasserwerfern und Schlagstöcken die Straßen hinunter und ging bei Verhaftungen sehr brutal zu Werke. Auf die Polizei flogen im Gegenzug Steine und andere Wurfgeschosse. Ausschlaggebend für die Eskalation war die kategorische Weigerung der Regierung, den Gewerkschaften eine Kundgebung am zentralen Taksim-Platz zu genehmigen.
Demonstrationsverbot für die Gewerkschaften
Am Taksim-Platz darf seit 1977 nicht mehr demonstriert werden, nach dem Putsch von 1980 wurde der 1. Mai als Feiertag zudem ganz abgeschafft. Bereits im letzten Jahr, zum 30-jährigen Jahrestag des "Blut-Mai", wollten die Gewerkschaften unbedingt auf dem Taksim-Platz eine Gedenkveranstaltung abhalten und wurden von der Polizei daran gehindert.
In diesem Jahr, so die Führung von DISK, sollte das nicht noch einmal passieren. Aber alle Gespräche zwischen Gewerkschaftsführung und Regierung in den letzten Wochen brachten nichts. Demonstrationen auf dem Taksim-Platz wurden nicht erlaubt - mal, weil angeblich gewaltsame Aktionen bevorstünden; mal, weil dadurch der Verkehr in der gesamten Innenstadt lahmgelegt würde.
Für das Verkehrschaos sorgte der Gouverneur von Istanbul, Muammar Güler, ganz alleine. Auf seine Anweisung hin fuhren die Fähren zwischen dem asiatischen und dem europäischen Teil der Stadt nicht mehr, es blieben etliche Busse im Depot, und selbst zwei U-Bahnlinien durften nicht verkehren. Es sollte verhindert werden, dass die von den Gewerkschaften erhofften bis zu 500.000 Teilnehmer der Demo überhaupt zusammenkommen konnten.
Ein ganzes Stadtviertel versinkt im Tränengasnebel
Um der Polizei zuvorzukommen, hatten sich schon in der Nacht die ersten Demonstrationsteilnehmer im Hauptquartier der Gewerkschaften getroffen. Das Gebäude liegt in Sisle, einem Stadtteil, von dem aus der Taksim-Platz per Fußmarsch gut erreichbar ist. Bereits um sieben Uhr in der früh begannen sie, sich zu einem Zug zu formieren.
Die Polizei hatte aus allen Landesteilen der Türkei Verstärkung herangekarrt - und die Polizisten gaben gleich den Ton für den Tag vor. Mit schweren Wasserwerfern wurden die ersten Reihen des Demonstrationszuges regelrecht von der Straße gefegt, es folgte ein Hagel von Gasgranaten, der Teilnehmer und Journalisten noch Hunderte Meter entfernt buchstäblich zum Kotzen brachte. Rund 1500 Demonstranten flüchteten ins Gebäude der Gewerkschaften, die Polizei umstellte das Gebäude, und die Menschen saßen fest.
Andere versuchten, auf unterschiedlichen Routen immer wieder bis zum Taksim-Platz vorzustoßen. Sie hatten keine Chance. Die Innenstadt war abgeriegelt, überall, wo sich eine Gruppe Demonstranten zusammentat, ging die Polizei rigoros dazwischen. Ein ganzes Stadtviertel versank im Tränengasnebel. Anwohner trauten sich nicht mehr auf die Straße. Zivile Greiftrupps der Polizei machten überall Jagd auf verdächtige Personen.
Vertrauen zur Regierung erschüttert
Für die Gewerkschaften dürfte nach diesem Tag das Vertrauensverhältnis zur Regierung von Recep Tayyip Erdogan endgültig erschüttert sein. Bereits in den letzten Wochen waren die Arbeitnehmerorganisationen und die Regierung immer wieder heftig aneinandergeraten, weil Erdogan unter dem Druck des Internationalen Währungsfond und sich rapide verschlechternder Konjunkturdaten eine so genannte "Sozialreform" durchs Parlament gepeitscht hatte, mit der das Rentenalter erheblich heraufgesetzt und die Arbeitgeberanteile an der Krankenversicherung nahezu abgeschafft wurden. Für die Türkei, in der die staatliche Krankenversicherung eine der wenigen flächendeckenden Sozialleistungen ist, ist das ein herber Einschnitt.
Das Demonstrationsverbot und die brutale Gangart der Polizei werden wohl dazu führen, dass die regierende AKP endgültig die Unterstützung der Gewerkschaften und unabhängigen Linken verlieren wird. Die nationalistisch-kemalistische Justiz will die Partei von Erdogan verbieten und ihn so entmachten. Die Strategie heute war eine politische Instinktlosigkeit, vermutlich entstanden aus der Arroganz der Macht, die die AKP seit ihrem großen Wahlsieg im letzten Jahr pflegt.