Strategie gegen den Absturz So kommt Europa aus der Midlife-Crisis

EU-Parlament in Straßburg: Zurück zu den eigenen Stärken
Foto: Cugnot Mathieu/ dpaEinem Menschen in der Midlife-Crisis wird gewöhnlich zweierlei geraten: Entweder er findet bessere Wege der Stressverarbeitung, er kann beispielsweise den Alkohol aufgeben oder mit Yoga anfangen. Oder er gesteht sich einfach ein, dass er nicht mehr der Jüngste ist, und nutzt die Gelegenheit, um Bilanz zu ziehen und seinem Leben vielleicht eine andere Richtung zu geben. Seine Interessen zu erweitern, zu reisen, etwas Neues zu lernen, eine weitere Sportart auszuprobieren, seinen Kindern oder Enkelkindern beim Großwerden zuzusehen.
Auch Europa steckt derzeit in einer solchen Krise, der Schwung von einst ist dahin. Doch bisher hat Europa daraus keine Konsequenzen gezogen und keinen der beiden oben genannten Ratschläge befolgt. Stattdessen unterzieht es sich immer neuen Verjüngungskuren und spielt den ewig Jugendlichen.
Das Europa, von dem ich träume, ist mit sich selbst im Reinen. Denn machen wir uns keine Illusionen: Wenn keine größere Katastrophe eintritt, dann wird Europa die stärkere Bedeutung von , und anderen aufstrebenden Ländern akzeptieren müssen. Im Jahr 1900 waren noch 25 Prozent der Weltbevölkerung Europäer - im Jahr 2050 werden es voraussichtlich nur noch fünf Prozent sein. Unter diesen Bedingungen kann Europa seine Bedeutung einfach nicht mehr aufrechterhalten.
Wir müssen uns auch eingestehen, dass wir eine ganze Menge von anderen lernen können. In Europa besteht Einigkeit darüber, dass Wachstum aus Innovationen und unternehmerischen Initiativen entstehen muss. Wir können uns eine Menge von Ländern wie Singapur, Australien oder den USA abschauen bei der Frage, wie sich unsere Wachstumsinfrastrukturen, vor allem der Universitäten, verbessern lassen und wie wir die Kommerzialisierung des Wissens voranbringen können.
Dabei sollen wir nicht müßig herumsitzen und zusehen, wie sich andere ins Rampenlicht drängen. Wir sollten stattdessen beharrlich die Kraft und Ausdauer unseres politischen, wirtschaftlichen und sozialen Modells in den Vordergrund rücken, während andere sich verausgaben und möglicherweise scheitern. Europa verfügt über einige der besten Steuerungsmodelle in Gesundheitsversorgung und Sozialpolitik: Das werden unsere Trümpfe sein, wenn anderswo auf der Welt die Erwartungen von Bevölkerung und Wählern immer weiter steigen und gleichzeitig die Lage durch die demografische Entwicklung schwieriger wird.
Europa muss sich auf seine wahren Stärken besinnen
Europa sollte sich wieder auf das Wesentliche besinnen: das Wachstum der Kernländer. Aus innenpolitischer Sicht bedeutet das vor allem die bestmögliche Nutzung des EU-Binnenmarkts. Rückblickend ist dieser eindeutig eine der großen europäischen Erfolgsgeschichten. Dennoch gibt es immer noch viele Hindernisse und Barrieren, die das Potential des Binnenmarkts ausbremsen. Mehr als die Hälfte der europäischen Unternehmer berichtet von Schwierigkeiten beim Vertrieb von Gütern in anderen Mitgliedstaaten, ganz zu schweigen von Dienstleistungen oder Kapitalflüssen. Es ist Zeit, dagegen anzugehen.
Zum Wesentlichen gehört auch, dass wir unseren Werten treu bleiben und an der Verbesserung der politischen Systeme Europas arbeiten. Üblicherweise ist der Zustand der Demokratie in Krisenzeiten zwar das Letzte, was die Leute interessiert. Aber es gibt viel zu modernisieren, was den Bereich öffentlicher Verantwortung angeht. Europa kann seinen Einfluss auf viele Arten geltend machen. Anderen ein Vorbild in attraktiver Regierungsführung zu sein, ist eine der nachhaltigsten und effektivsten. Wir sollten diese Aufgabe annehmen.
Und wir sollten unsere Aufmerksamkeit Nachbarn und Beitrittskandidaten zuwenden. Die eindrucksvollen Fortschritte von Ländern wie der Türkei bieten der Union die Gelegenheit, ihren Einfluss auf das Nachbarland zu festigen. Die EU-Mitgliedschaft ist in Ankara immer noch die am meisten gewünschte Perspektive, wenn auch ganz offensichtlich nicht die einzige. Die EU wird in den Beitrittsverhandlungen mit dem muslimischen Staat bald keine weiteren Optionen mehr haben. Der Moment der Entscheidung rückt immer näher, und wir würden es bitter bereuen, sollten wir ihn verpassen.