Strategiewechsel Taliban säen mit Magnetbomben Terrorangst
Die E-Mail der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) an ihre Mitarbeiter in Kabul ist kurz und doch beängstigend: Es gebe "glaubwürdige Gefahrenwarnungen", dass die Taliban in Afghanistan derzeit "ihre Taktik, Technik und Vorgehensweisen" neu ausloten. Konkret werden die Entwicklungshelfer in dem Warnschreiben vor einer neuen Bedrohung gewarnt: vor magnetischen Bomben, die die Extremisten quasi im Vorbeigehen an Autos kleben könnten.
"Um diese Sprengsätze anzubringen, beauftragen die Aufständischen Kinder und anderes Personal", heißt es in dem Rundschreiben. "Bitte informieren Sie all Ihre Fahrer darüber und beachten Sie ein paar kleine Sicherheitsmaßnahmen: Fahrer sollten nicht schlafen, während sie auf Passagiere warten! Fahrer sollten die Umgebung um das Auto herum aufmerksam beobachten, vor allem in Situationen wie bei Verkehrsstaus! Fahrer sollten auch alle Passagiere darauf hinweisen, die Umgebung genau im Blick zu haben!"
In den vergangenen Monaten haben die Taliban bei Kämpfen gegen die Nato erhebliche Verluste erlitten - nun versuchen sie offenbar eine neue Terrorstrategie. "Die Sommeroffensive ist ziemlich schlecht für sie gelaufen. Sie überlegen sich deshalb, wie sie sich wehren können", sagt ein ranghoher deutscher Diplomat. "Die Bedrohungslage für die Menschen in Afghanistan hat sich im Wesentlichen insgesamt nicht verschlechtert, aber die empfundene Sicherheit ist definitiv schlechter geworden."
Angriffe haben erhebliche Symbolwirkung
Was das bedeutet, wurde am Dienstag deutlich: In einer selbstmörderischen Aktion griffen Taliban-Kämpfer das Hauptquartier der Nato-Truppe Isaf in Kabul sowie die nahe gelegene US-Botschaft an, mindestens sechs Raketen sollen das Diplomatengebäude getroffen haben. Die Kämpfe dauerten bis zum frühen Mittwochmorgen an, erst da konnten die Angreifer zurückgeschlagen werden.Hinter derartigen Attacken steckt offenbar System: Statt sich Gefechte mit alliierten Soldaten zu liefern, greifen die Taliban immer häufiger mit kleinen Kommandos westliche Einrichtungen an. Auch wenn sie am Ende meist geschlagen werden, haben die Angriffe erhebliche Symbolwirkung - wie beim Anschlag auf das Hotel Intercontinental im Juni. Auch mitten in Kabul und trotz der weiteren Präsenz der internationalen Truppen, so die Botschaft, sind die Taliban jederzeit zu einer Attacke in der Lage.
Die spektakulären Attacken auf symbolträchtige Ziele werden immer mehr zum Muster der Taliban: Erst vor dreieinhalb Wochen hatte ein Selbstmordkommando das britische Kulturinstitut in der afghanischen Hauptstadt angegriffen und zehn Menschen getötet, darunter zwei Ausländer. Die gezielten Attacken, so die Analyse von Diplomaten, haben eine große öffentliche Wirkung: Sie lassen die Extremisten stärker erscheinen, als sie sind. Militärische Aktionen wie der Abschuss eines "Chinook"-Hubschraubers Anfang August, bei dem 31 Amerikaner und sieben Afghanen ums Leben kamen, seien dagegen eher "Zufallstreffer".
"Wir wehren uns", sagte am Wochenende ein Taliban-Sprecher aus dem pakistanischen Quetta SPIEGEL ONLINE am Telefon. "Wir lassen uns nicht vorschreiben, wie unsere Zukunft auszusehen hat - weder vom Westen noch von den Kollaborateuren des Westens in Afghanistan und Pakistan." Auf die Frage, ob er für die afghanischen oder für die pakistanischen Taliban spreche, antwortete der Mann: "Für beide." Auch in Pakistan werde man künftig "neue Wege beschreiten", um auf sich aufmerksam zu machen, erklärte er. "Wir sind in erster Linie Paschtunen. Die Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan ist uns egal."
Ausländer in Kabul fürchten zusehends um ihre Sicherheit
Gemeint sind damit vor allem Entführungen von Westlern. Seit Anfang Juli wird ein Schweizer Paar vermisst, das per VW-Bus durch Asien reiste. Die Taliban haben sich zu der Tat bekannt und mehreren westlichen Medien Foto- und Videomaterial von den Entführten zum Kauf angeboten. Ebenso haben sie einen 70-jährigen amerikanischen Entwicklungshelfer verschleppt. Die Entführer drangen dabei Mitte August in sein Haus mitten in der Millionenmetropole Lahore ein und verschwanden mit dem Mann, der am darauffolgenden Tag eigentlich in die USA ausreisen wollte.
Mit ihrer neuen Strategie wollen die Taliban auf sich aufmerksam machen als ernstzunehmende und mächtige Gruppe, über die bei einer künftigen Ausgestaltung Afghanistans nicht hinweggesehen werden soll. "Die Nato will mit uns reden, kämpft aber trotzdem weiter", sagte der Taliban-Sprecher. "So machen wir es auch: Wir kämpfen weiter."
Die westlichen Ausländer in Afghanistan und Pakistan betreiben deshalb einen gewaltigen Aufwand für ihre Sicherheit: Organisationen und Botschaften verpflichten ihre Mitarbeiter, nur noch gepanzerte Fahrzeuge zu nutzen, schusssichere Westen zu tragen, möglichst wenig zu reisen. "Ich arbeite hinter hohen Mauern, sehe überall bewaffnete Sicherheitsleute und bewege mich nur von meiner Wohnung zum Büro und zurück", sagt eine GIZ-Mitarbeiterin in Kabul. "Man fühlt sich schon sehr gefangen."