Gewalteskalation Kapstadt, Metropole der Angst

Ein Soldat patrouilliert durch einen Township
Foto: MARCO LONGARI/ AFPIn der Millionenmetropole an der Südspitze Afrikas vergeht kein Tag, an dem nicht jemand umgebracht wird. Allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres wurden in Kapstadt 1280 Menschen erschossen, erstochen, erschlagen. Nahezu elf Opfer täglich, angeblich so viele wie nie vorher.
Und die Gewalt eskaliert weiter: An zwei Wochenenden im Juli wurden insgesamt 89 Menschen ermordet und am vergangenen Wochenende waren es noch einmal 47. Das hat auch Kapstadter schockiert, die längst an schlimme Nachrichten gewohnt sind.
Diese Entwicklung sei absolut alarmierend, warnt der Stadtrat Jean-Pierre Smith, der im Sicherheitsausschuss sitzt: "Wenn wir nicht schleunigst etwas tun, werden wir zur gefährlichsten City der Welt." Im ersten Jahresdrittel kamen auf 100.000 Einwohner 97,3 Morde. Zum Vergleich: In Berlin pendelt die jährliche Durchschnittsrate für Mord und Totschlag zwischen 2,5 und 4,3.
"Nachts höre ich oft Schüsse", sagt Yamkela Masala, "und jeden Montag, wenn ich frühmorgens zur Arbeit aufbreche, sehe ich Leichen auf der Straße herumliegen." Der 27-Jährige arbeitet als Barista in einem Café im Stadtzentrum und haust in einer Blechhütte in Khayelitsha, im größten Township Kapstadts mit mehr als 400.000 Einwohnern.

Khayelitsha: In der Township soll jetzt die Armee für Ruhe sorgen
Foto: Mike Hutchings/ REUTERS"Ihr Weißen könnt euch einigermaßen sicher fühlen, aber in unseren Vierteln ist die Situation unerträglich geworden. Ich muss ständig das Schlimmste befürchten, wenn ich im Halbdunkel allein unterwegs bin", sagt Masala.
Die Gewaltexzesse geschehen nicht in den Wohnbezirken der wohlhabenden - meist weißen - Bevölkerung, sondern fast ausschließlich in den Cape Flats, in den endlosen Townships vor der Stadt, wo die arme Bevölkerungsmehrheit lebt.
Und die Lage ist immer mehr außer Kontrolle geraten, manche Slums haben sich in Kriegszonen verwandelt, in denen sich zahllose Banden blutige Schlachten liefern. Die Polizei wirkt hilflos gegen die Gangster.
Ferner seien die Justizorgane überlastet und miserabel organisiert, stellt das renommierte Institute for Security Studies fest. Hinzu kommt, dass bestechliche Beamte mit Kriminellen zusammenarbeiteten: Weil sie wenig verdienten und schlecht ausgerüstet seien, suchen sie oft das Weite, wenn irgendwo geschossen wird.

Polizist und Kind in Kapstadt: Nahezu elf Todesopfer gibt es in der Stadt täglich
Foto: NIC BOTHMA/ EPA-EFE/ REXDeshalb soll nun die Armee die Krise lösen. Die Regierung hat Mitte Juli 1300 Soldaten des achten Infanteriebataillons in die Unruhezonen abkommandiert. "Was soll das bringen?" fragt Martin Makazi. "Sie patrouillieren durch die Straßen und sind nur ein Begleitschutz für die unfähigen Polizeikräfte."
Makazi, ein stämmiger Mann von 47 Jahren, kommt aus einem der mörderischsten Townships, aus Nyanga, wo im letzten Berichtsjahr 308 Menschen umgebracht wurden. Er unterstützt als Vorsitzender des Gemeindeforums die Arbeit der Polizei.
Die für drei Monate geplante Operation der Soldaten führe nur zu einer weiteren Militarisierung, auf die die Banden entsprechend reagieren würden. Denn auch sie seien wie kleine Armeen organisiert, sagt Makazi. "Man bekämpft Gewalt mit Gewalt, statt die Ursachen des Problems anzugehen."

Blick auf Khayelitsha: vernachlässigte Elendsquartiere
Foto: Johnny Miller/ REUTERSUm die Ursachen zu verstehen, muss man in die Zeit der Rassentrennung zurückblenden, in die Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts, als das Apartheid-Regime Zehntausende Schwarze und Farbige, sogenannte Coloureds, aus Wohngebieten zwangsumsiedelte, in denen weiße Bürger lebten. Menschen wurden wie Müll vor der Stadt abgekippt. Die tristen Siedlungen waren von Anfang an geplagt von Armut, Arbeitslosigkeit und Gewalt.
Viele junge Township-Bewohner haben die Hoffnung aufgegeben
Nach dem Ende der Apartheid 1994 hofften die Vertriebenen auf ein besseres Leben, das hatte ihnen die Befreiungsbewegung African National Congress (ANC) versprochen. Sie hofften vergeblich. Die neuen Machthaber versagten bei der Armutsbekämpfung kläglich. Und auch die Regierung der Provinz Western Cape und die Stadtverwaltung von Kapstadt, beide von der Oppositionspartei Democratic Alliance (DA) geführt, vernachlässigten die Elendsquartiere.
"Wir drängen die politisch Verantwortlichen seit zwanzig Jahren, die wirtschaftliche Entwicklung voranzubringen, um Arbeitsplätze zu schaffen", sagt Makazi. "Doch viel zu wenig wurde getan, und heute sehen wir das Ergebnis."
Vor allem junge Bewohner der Townships haben die Hoffnung aufgegeben. Viele wachsen in zerrütteten Familien auf, ihre Väter sind meist abwesend, der Alltag wird häufig durch häusliche Gewalt, sexuellen Missbrauch, exzessiven Alkohol- und Drogenkonsum geprägt. Und durch das kriminelle Umfeld.
Banden tief in den Vierteln verwurzelt
Die Expertin Simone Haysom, die in der "Global Initiative against Transnational Organised Crime" aktiv ist und ein Buch über die Cape Flats geschrieben hat, führt die explosive Zunahme der Gewalt auch auf die Bandenkultur zurück. Diese sei über Jahre gewachsen. Um zu überleben, sind männliche Jugendliche schon früh gezwungen, sich einer Gang anzuschließen. Andernfalls sind sie deren Terror schutzlos ausgeliefert, werden auf offener Straße ausgeraubt und verprügelt.
Die Banden sind tief verwurzelt in den sozialen Strukturen der Townships, ihre Anführer, die "Kingpins", werden gehasst und bewundert zugleich. Denn sie schaffen Einkommensmöglichkeiten für ihre "Soldaten", stärken deren Selbstwertgefühl und geben ihnen Macht.
Im Verteilungskampf um Herrschaftsgebiete und profitable Geschäfte würden sich immer mehr Gangs formieren, so Haysom. Es gehe um Rauschgift, illegale Kaschemmen, Prostitution, Schutzgelderpressung. An Mordgeräten herrscht kein Mangel: Zwischen 2010 und 2016 haben korrupte Polizeioffiziere 2000 konfiszierte Handfeuerwaffen an Gangsterbosse verkauft.

Polizisten vor brennenden Barrikaden in Khayelitsha
Foto: Mark Wessels/ REUTERS"Wir leben in ständiger Angst, sogar Kinder werden auf dem Weg zur Schule durch Querschläger getötet", sagt Shaheeda, eine 40-jährige Mutter, die ihren vollen Namen nicht verraten will. Sie wohnt in Hanover Park, einem der verwahrlosten Quartiere, und erinnert sich voller Ärger an den Besuch von Präsident Cyril Ramaphosa im November vergangenen Jahres.
Der Staatschef ging zwischen den Hütten, Holzverschlägen und Baracken herum und hörte sich die Klagen der Leute an. Dann weihte er öffentlichkeitswirksam eine neue Spezialeinheit zur Bekämpfung der Banden ein und hielt eine Rede, in der er Versäumnisse seiner Regierung einräumte - fast klang es wie eine Entschuldigung.
"Wo sind die Gangster? Ich will mich mit ihnen anlegen!", rief Ramaphosa. Viele Gangster, die für diesen Tag eine Art Waffenruhe beschlossen hatten, waren unter den Zuhörern. Sie konnten über die Kraftsprüche des Präsidenten nur grinsen.
"Dann zog Ramaphosa ab, und die Banden übernahmen wieder die Straße", sagt Shaheeda.
In den Townships glauben die Menschen nicht mehr an schnelle, einfache Lösungen. Sie hätten in den vergangenen 20 Jahren schon mehr als ein Dutzend Militäroperationen erlebt. Keine einzige habe etwas bewirkt, sagt Aktivist Makazi. "Es war immer nur eine große Show, um die Leute zu beruhigen."
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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