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Syrien: Hilfe gegen dem Hungertod

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Belagerungen im Syrienkrieg "Unterwerft euch - oder ihr verhungert"

Das syrische Regime belagert Städte und Dörfer, die Bewohner essen Rinde von Bäumen, tauschen ihr Auto gegen ein Kilo Reis. Aktivisten schmuggeln deshalb Saatgut in die Orte. Ein lebensgefährliches Wagnis.
Zur Person
Foto: Abdallah Al-Shaar / privat

Abdallah Al-Shaar, 27, kommt aus Salamiyah im Westen Syriens. Während der Syrischen Revolution 2011 nahm er an Protesten gegen das Assad-Regime teil und wurde zweimal vom syrischen Geheimdienst verhaftet. Daraufhin musste Al-Shaar in ein Flüchtlingslager in den Libanon fliehen, wo er zusammen mit anderen syrischen Aktivistinnen und Aktivisten humanitäre Hilfe leistete. Im Frühjahr 2015 flüchtete er nach Schweden. Heute lebt Al-Shaar in Malmö und engagiert sich bei der Initiative "The 15th Garden" - eine zivilgesellschaftliche Basisbewegung, die sich für Ernährungssouveränität in Syrien einsetzt.

Nachdem sich Menschen 2011 in Syrien gegen das Regime erhoben, begannen die Truppen von Baschar al-Assad, Dörfer und Städte, in denen es Proteste gab, zu belagern und auszuhungern. Derzeit leben eine Million Syrer im diesem Belagerungszustand . Weitere 1,3 Millionen Menschen sind weitgehend von der Außenwelt abgeschnitten.

Die Aktivisten von "The 15th Garden" versuchen, die Folgen dieser Kriegstaktik zu mildern. Im Interview spricht Abdallah Al-Shaar über Urban Gardening unter Scharfschützenblicken, Treibhäuser in Wohnhäusern - und die Bedeutung von Hülsenfrüchten für die Menschen in den betroffenen Gebieten.


SPIEGEL ONLINE: Herr Al-Shaar, was sind die Folgen der Belagerungen?

Al-Shaar: Lebensmittel und Medikamente kommen nicht in die belagerten Gebiete. Sogar die Hilfslieferungen der Uno werden blockiert. Es ist eine humanitäre Katastrophe: Die Zivilbevölkerung leidet unter schrecklichem Hunger, es gibt nicht einmal Milch für die Kinder, die häufig unterernährt sind. Manche tauschen sogar ihr Auto gegen einen Ein-Kilo-Sack Reis oder essen aus lauter Verzweiflung die Rinde von Bäumen. Bauern werden verhaftet und Anbauflächen bombardiert, sodass die ohnehin mageren Ernten verbrennen. Assad stellt die Menschen vor die Wahl: Entweder ihr unterwerft euch, oder ihr verhungert.

SPIEGEL ONLINE: Wie versuchen die Stadtbewohner, die Folgen der Belagerungen zu mildern?

Al-Shaar: In Zabadani, einer Kleinstadt an der Grenze zum Libanon, haben Frauengruppen nach Ausbruch des Kriegs damit begonnen, mitten in der Stadt Gemüse anzubauen. In den belagerten Gebieten hat sich die Idee der urbanen Landwirtschaft schnell von Stadt zu Stadt verbreitet.

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SPIEGEL ONLINE: Wie gärtnern die Menschen in den Städten?

Al-Shaar: Sie bauen überall an, oft auf den Dächern, was aber wegen der Scharfschützen sehr gefährlich ist. Während des Winters gärtnern die Menschen sogar in den Wohngebäuden, die dann als Treibhäuser fungieren. Selbst kleinste Flächen von vier Quadratmetern werden genutzt. Notfalls entfernen die Menschen den Asphalt, um Gemüse anzubauen.

SPIEGEL ONLINE: Was bauen die belagerten Menschen konkret an?

Al-Shaar: Vor allem Gemüse wie Kartoffeln, Auberginen, Zucchini oder Zwiebeln. Eine wichtige Rolle spielen Hülsenfrüchte, weil sie nährstoffreich und einfacher zu lagern sind. Elementar sind aber auch Baumfrüchte wie beispielsweise Äpfel oder Oliven, die in Hungerzeiten viel Energie spenden. Und wir bauen natürlich Getreide an. Allerdings lässt Assad die Mühlen, die für die Mehlproduktion unabdingbar sind, systematisch zerstören.

SPIEGEL ONLINE: Mit welchen Problemen hat die urbane Landwirtschaft zu kämpfen?

Al-Shaar: Sowohl die Bauern auf dem Land als auch die Stadtbewohner benötigen dringend Wasser, einerseits natürlich zum Trinken, andererseits zum Bewässern der Pflanzen. Der IS und insbesondere das Assad-Regime haben gezielt die Wasserkanäle geschlossen. Daher sind Wasserpumpen umso wichtiger geworden. Doch die Pumpen, die das Grundwasser anzapfen, sind dieselbetrieben. Diesel gibt es kaum in den belagerten Gebieten, und er ist enorm teuer: Ein Liter Treibstoff kostet in den belagerten Städten bis zu zehn US-Dollar, für einen einfachen Bauern also nicht zu bezahlen. Den belagerten Menschen ist es gelungen, kleine Mengen Treibstoff selbst herzustellen, indem sie Plastikabfälle verbrennen. Aber das reicht bei Weitem nicht aus und ist eher von schlechter Qualität.

SPIEGEL ONLINE: Welche Materialien fehlen noch?

Al-Shaar: In den Städten mangelt es an Saatgut. Unser Netzwerk hat Gruppen in Schweden, Frankreich, Griechenland, Italien und Deutschland. Diese Gruppen sammeln Saatgut und schicken es nach Syrien und in die Flüchtlingslager in den Nachbarländern. "Schicken" klingt so harmlos, für die Beteiligten ist das oft ein lebensgefährliches Wagnis. Wenn das Saatgut erst mal in den Städten ist, können die Menschen nach der Ernte neues Saatgut gewinnen. Wir achten penibel darauf, dass kein genmanipuliertes oder hybrides Saatgut nach Syrien gelangt.

SPIEGEL ONLINE: In den Flüchtlingslagern im Libanon wird auch gegärtnert?

Al-Shaar: Ja. Bevor ich im Frühjahr 2015 nach Schweden geflohen bin, habe ich zusammen mit anderen Aktivisten in einem Flüchtlingslager Gärten aufgebaut und jene unterstützt, die dort bereits gärtnerten. Dort kam ich erstmals mit dem damals neu gegründeten Projekt "The 15th Garden" in Kontakt. In den Flüchtlingscamps haben wir auch Minibäckereien mit kleinen Öfen und eine Saatgutbank gebaut sowie eine Schule für Ökolandbau eröffnet.

SPIEGEL ONLINE: Was genau ist dabei das Ziel von "The 15th Garden"?

Al-Shaar: Wir streben eine Ernährungssouveränität für Syrien  an. Wenn die Menschen sich selbst versorgen können, dann sind sie unabhängiger von äußeren Einflüssen und von autoritären Kräften, die versuchen, die Menschen von sich abhängig zu machen. Wir denken natürlich auch an die Zeit nach dem Krieg, wo es umso wichtiger sein wird, dass die Menschen selbst über ihr Schicksal entscheiden können. Ernährungssouveränität bedeutet echte Demokratie. Sie macht uns immun gegen Diktatoren, aber auch gegen die Interessen anderer Staaten. Eine funktionierende lokale Ökonomie bedarf keiner Lebensmittelimporte. Diese Souveränität ist zum jetzigen Zeitpunkt wichtig - und erst recht als Ausgangsbasis für die Zeit nach dem Krieg.

SPIEGEL ONLINE: Woher kommt eigentlich der Name von "The 15h Garden"?

Al-Shaar: Der 15. März ist der Jahrestag der syrischen Revolution. Drei Jahre nach Ausbruch der Revolution, am 15. März 2014, trafen sich 15 Menschen aus verschiedenen Orten Syriens. An diesem Tag haben sie dann beschlossen, ein Netzwerk für Ernährungssouveränität zu gründen, und sie haben es "The 15th Garden" genannt.

SPIEGEL ONLINE: Welche politischen Ideale verfolgt "The 15th Garden"?

Al-Shaar: Wir wollen die gleichen Rechte für alle Syrerinnen und Syrer. Das schließt alle Menschen ein, ganz gleich, welcher Religion oder Ethnie sie angehören. Die basisdemokratischen Selbstverwaltungen in den belagerten Städten zeigen, dass Politik auch von unten nach oben funktioniert - daran wollen wir anknüpfen. Erst wenn die Menschen souverän sind und ihre eigenen Entscheidungen treffen können, ist ein Ende des Kriegs in Sicht. Und der wichtigste Punkt: Ohne Gerechtigkeit kann es keinen Frieden geben in Syrien.

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