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Syrien: Kampf um Idlib

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Schlacht um Idlib Assads Offensive treibt Hunderttausende in die Flucht

Regierungstruppen rücken auf Idlib vor, es ist die letzte Hochburg der syrischen Rebellen. Etliche Menschen fliehen vor den Kämpfen, viele schon zum zweiten Mal. An der Grenze zur Türkei droht die Lage zu eskalieren.

Der Konflikt in Syrien tobt seit fast sieben Jahren, doch eine derart große Fluchtbewegung in so kurzer Zeit hat es bislang noch nicht gegeben, sagen Menschenrechtler. Allein in den vergangenen vier Wochen sind nach Zählung der Vereinten Nationen mehr als 210.000 Menschen im Nordwesten Syriens vor den vorrückenden Truppen des Diktators Baschar al-Assad geflüchtet.

Im Dezember hat das Regime eine Großoffensive auf die Provinz Idlib gestartet, das letzte große von Aufständischen kontrollierte Gebiet Syriens. Rund 2,5 Millionen Menschen leben dort, fast jeder zweite ist ein Binnenflüchtling. Mehr als eine Million Syrer sind in den vergangenen Jahren nach Idlib geflüchtet, ein Teil von ihnen floh vor der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS), die meisten jedoch flüchteten vor dem Assad-Regime. Hinzu kommen Zehntausende Menschen, die nach dem Fall der Stadt Aleppo und anderer Hochburgen der Opposition vom Regime in grünen Reisebussen nach Idlib gebracht wurden. Sie werden nun ein weiteres Mal zu Flüchtlingen.

Diese Politik der gezielten Vertreibung hat dazu geführt, dass Assad nun Rebellen, Regimegegner und Oppositionelle in einem Gebiet konzentriert hat. Seine Truppen müssen nicht mehr an verschiedenen Fronten kämpfen, sondern können ihre Offensive gezielt auf ein Territorium richten.

Das letzte Aufbäumen des IS

Geflohene Zivilisten in der Region Idlib

Geflohene Zivilisten in der Region Idlib

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Der Sturm auf Idlib war seit Monaten erwartet worden. Er folgt dem taktischen Muster der Eroberung Aleppos. Russische und syrische Luftwaffe greifen gezielt Flüchtlingscamps, Schulen, Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen an, um die Moral der Bewohner zu brechen. Kilometer um Kilometer rücken die Regierungstruppen und verbündete Milizen von Süden in Richtung Idlib vor. Kurzfristiges Ziel ist es, das von Rebellen kontrollierte Gebiet in zwei Teile zu sprengen. Bei ihrem Vormarsch treiben sie Zehntausende Zivilisten vor sich her, die nun in Richtung der türkischen Grenze flüchten. Doch die Türkei hat die Grenze faktisch geschlossen, nur in Ausnahmefällen lässt die Regierung Schwerverletzte ins Land.

Machtverteilung in Syrien

Machtverteilung in Syrien

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Die Vereinten Nationen beschreiben die Lage in Idlib als dramatisch. Die Menschen, die jüngst gen Norden geflüchtet sind, finden nur selten ein festes Obdach. Bei Temperaturen von knapp über null Grad leben sie in Zelten in improvisierten Flüchtlingslagern, oft ohne fließendes Wasser und sanitäre Anlagen.

Ein von Islamisten dominiertes Rebellenbündnis hatte die Region im Frühjahr 2015 erobert. Es war der letzte große militärische Erfolg der Aufständischen - wenige Monate später griff Russland auf Seiten des Regimes in den Konflikt ein. Seither sind die Rebellen landesweit auf dem Rückzug. Stärkste militärische Kraft in Idlib ist das islamistische Milizenbündnis Hayat Tahrir al-Sham (HTS). Diese Allianz wird von Kämpfern der früheren Nusra-Front dominiert, die einst zum Terrornetzwerk al-Qaida gehörte. Der Generalstabschef der russischen Armee, Waleri Gerassimow, rief die Zerschlagung der HTS zum wichtigsten Ziel seiner Truppen für dieses Jahr in Syrien aus.

Den IS-Terroristen gelingt ein Comeback in Idlib

Im Schatten der syrischen Regierungstruppen hat auch der IS in den vergangenen Wochen Geländegewinne im Nordwesten Syriens erzielt. Wenige Wochen nachdem Iran, Syrien und Russland die Terrormiliz im Land offiziell für besiegt erklärten, hat sie mehrere Dörfer in Idlib unter ihre Kontrolle gebracht. Mehrere Hundert Dschihadisten sollen in dem Gebiet für den IS kämpfen. Sie gelangten entweder mit Hilfe von Schleppern aus anderen Landesteilen durch Regierungsgebiete in die IS-Enklave oder sie sind sogenannte Schläfer, die nun den Zeitpunkt zum offenen Kampf gekommen sehen.

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Syrien: Kampf um Idlib

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Eigentlich hatten die verfeindeten Islamisten der Nusra-Front den IS 2014 aus Idlib vertrieben - nun, da die HTS als Nachfolgeorganisation der Nusra-Front vor der militärischen Niederlage steht, sieht der IS offenbar die Gelegenheit zu einem Comeback in der Region.

Die Lage in Idlib unterstreicht, dass Russland, Iran und die Türkei weder willens, noch in der Lage sind, Syrien zu befrieden. Nachdem sich die USA unter Donald Trump aus dem Konflikt praktisch herausgezogen haben, starteten die drei Staaten unter Umgehung der Vereinten Nationen einen eigenen sogenannten Friedensprozess für Syrien. Einer der ersten Schritte war dabei die Einrichtung sogenannter Deeskalationszonen in Syrien, in denen die Waffen schweigen sollten. Eine dieser vier Zonen ist die Provinz Idlib. Moskau, Teheran und Ankara sollten für die Einhaltung der Waffenruhe bürgen, türkische Einheiten am Boden die Lage beobachten. Doch weil Attacken auf die HTS ausdrücklich von der Feuerpause ausgenommen wurden, haben die Kämpfe in Idlib nie aufgehört.

Araber flüchten nach Norden, Kurden nach Süden

Mehrere Hundert türkische Soldaten sind in der Provinz stationiert. Staatschef Recep Tayyip Erdogan geht es bei ihrer Entsendung jedoch weniger um die Kontrolle der Lage vor Ort. Stattdessen sollen sie offenbar eine Offensive auf die benachbarte kurdische Enklave Afrin vorbereiten. Erdogan hat einen Vormarsch auf das Gebiet angekündigt, das von der kurdischen YPG-Miliz kontrolliert wird. Die YPG gilt als syrischer Ableger der türkischen PKK.

Afrin grenzt im Norden und Westen an die Türkei, im Osten an das von türkischen Truppen kontrollierte Gebiet um die syrische Stadt al-Bab. Die Provinz Idlib liegt im Süden. Damit sind die Kurden von nahezu allen Seiten von türkischen Truppen eingekreist. Erdogans Ziel ist es, die YPG-Milizen in Richtung Aleppo zu treiben und das Grenzgebiet unter türkische Kontrolle zu bekommen.

Wahrscheinlich wird es also schon bald gegenläufige Flüchtlingsströme in Syrien geben: Arabische Syrer, die vor Assads Truppen nach Norden fliehen und kurdische Syrer, die vor Erdogans Truppen gen Süden flüchten.


Zusammengefasst: Die Truppen des syrischen Diktators Baschar al-Assad rücken in die syrische Provinz Idlib vor. Sie treiben Hunderttausende Zivilisten vor sich her, für viele von ihnen ist es die zweite Vertreibung. Im Schatten der Regierungstruppen hat auch der IS mehrere Dörfer erobert. Und der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan bereitet eine Offensive auf die benachbarte kurdische Enklave Afrin vor. Die Zahl der Flüchtlinge dürfte damit schon bald weiter zunehmen.

SPIEGEL TV-Dokumentation "Inside IS"

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