Jakob Augstein

Bilder von toten syrischen Kindern Die Krise des Mitleids

Jeder Krieg ist auch ein Krieg der Bilder. Aber wer tote Kinder zeigt, um moralische Entrüstung zu erregen, betreibt Missbrauch - der Opfer und unserer Gefühle. Wir sollten von unserem Recht auf Wegsehen Gebrauch machen.
Zerstörungen in Aleppo

Zerstörungen in Aleppo

Foto: KARAM AL-MASRI/ AFP

Das erste Bild, das sich im Gedächtnis festsetzte, war jenes vom toten Körper eines Kindes, das wie schlafend am Ufer lag, noch vom Wasser des Meeres umspielt, in dem es ertrunken war. Das zweite zeigte einen kleinen Jungen in Aleppo, das Gesicht voll Staub und Blut, auf dem orangefarbenen Sitz eines Krankenwagens, seine Augen schauten mit leerem Blick den Betrachter an.

Es kommen immer mehr solcher Bilder. Der Bürgerkrieg in Syrien wird zum Bilderkrieg. Aber wer tote und verwundete Kinder in den Dienst seiner Zwecke stellt, macht sich des Missbrauchs schuldig - ganz gleich, wie gut die Absichten sind. Es geht um den Missbrauch der Kinder und um den Missbrauch unserer Gefühle. Hört auf damit!

Diese Bilder sprengen jedes Maß. Sie sind buchstäblich unerträglich. Wie soll es ein Leben geben, mit diesen Bildern im Kopf? Jedes einzelne zwingt jeden Einzelnen zum sofortigen Handeln. Verhindert das Sterben jetzt! Aber was kann der Einzelne jetzt tun, das Sterben sofort zu verhindern? Nichts. Buchstäblich gar nichts.

Diese Bilder erheben einen absoluten Anspruch, der nicht einlösbar ist. Und das ist gefährlich. Wenn die Moral im Angesicht des absoluten Grauens ihre absolute Machtlosigkeit erkennen muss, wird sie vernichtet oder zur Lüge.

Susan Sontag hat in ihrem berühmten Essay "Das Leiden anderer betrachten" dazu aufgefordert, sich vom Schrecken der Bilder heimsuchen zu lassen: "Das Bild sagt: Setz dem ein Ende, interveniere, handle. Und dies ist die entscheidende, die korrekte Reaktion." Aber der Gedanke ist reine Fiktion. Intervenieren? Es ist kein Zufall, dass man diese Vokabel für die kriegerischen Einsätze des Westens nutzt, die in der großen Mehrzahl der Fälle die Dinge nicht besser, sondern schlechter gemacht haben. In Afghanistan, im Irak, in Libyen da wäre man froh gewesen, wenn der Westen nicht "interveniert" hätte. Und auch Syrien wäre heute besser dran, wenn weder der Westen noch Russland noch Iran noch Saudi-Arabien "interveniert" hätten.

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Foto: AP/ White Helmets

Susan Sontag hat moralphilosophisch argumentiert, nicht politisch. Das ist die Schwäche ihres Gedankens. Denn in der Realität der Politik entstehen aus den Interventionen die Bilder, die als Rechtfertigung weiterer Interventionen herhalten. Und das ist die Schwäche der Bilder.

Jedes Bild ist eine Inszenierung

Und damit ist noch nichts gesagt zur Frage der politischen Instrumentalisierung der toten Kinder. Das Objektiv der Kamera heißt zwar so - ist es aber nicht. Jedes Bild ist eine Inszenierung. Und wer ein totes Kind zeigt, zeigt hundert andere nicht und nimmt wohl oder übel an einer Hierarchisierung der Opfer teil.

Dennoch loben wir uns für unser Mitleid. Wir halten es immer noch mit Lessing, der in einem Brief schrieb: "Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch." Damals brach die Revolution des Mitleids aus, das ja beileibe kein natürliches Gefühl ist, sondern ein kulturelles Phänomen. Früher empfanden die Menschen den Schmerz nicht als etwas Verbindendes. Wenn auf alten Bildern dem Marsyas bei lebendigem Leib die Haut abgezogen wird, dann sollte diese Darstellung kein Mitleid erregen. Es ging um Lust, Angst, Gerechtigkeit - nicht um Mitleid.

Seit der Revolution des Mitleids hat die Darstellung des Schmerzes eine neue Bedeutung. Sie soll helfen, eine Moral, die in Nahverhältnissen selbstverständlich ist, auf Fernverhältnisse zu übertragen. Aus Nächstenliebe soll Fernstenliebe werden. Schopenhauer war der Philosoph des Mitleids. Er hat seine Gedanken zur Moral mit den Schilderungen der abscheulichsten Grausamkeiten verziert, zu denen die Menschen fähig sind. In der Grausamkeit erkannte er das wahre Böse. Sein Bild dafür: "Mancher Mensch wäre imstande, einen anderen totzuschlagen, bloß um mit dessen Fette sich die Stiefel zu schmieren." Er nannte das eine Hyperbel, eine Übertreibung. Wir Heutigen wissen, dass es keine war.

Ist es Mitleid - oder Egoismus?

Aber Mitleid ist eine zwiespältige Sache. Das Grauen und sein Gegenstück, das Mitleid, sind vor allem eine Erregung des Gefühls. Wer Mitleid erregen will, der will vor allem erregen. Wenn eine Zeitung Bilder von nackten Frauen zeigt, erregt sie die sexuelle Lust ihrer Leser. Bilder von toten Kindern erregen die moralische Lust.

Hinter dem Mitleid kann sich also der Egoismus verstecken. Auf die Idee ist schon der dänische Philosoph Søren Kierkegaard gekommen. Der eifrige Zeitungsleser hielt Mitte des 19. Jahrhunderts eine Meldung fest: "Die sozialen Bestrebungen und die diese leitende schöne Sympathie verbreiten sich immer mehr. In Leipzig hat sich ein Komitee gebildet, welches aus Sympathie mit dem traurigen Ende alter Pferde beschlossen hat, diese zu fressen."

Wenn man mir Bilder von toten Kinder zeigt, mache ich von meinem Recht auf Wegsehen Gebrauch.

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Foto: SPIEGEL ONLINE
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