Giftgasangriff in Syrien Die Indizien, die Verschwörungstheorien, die Fakten

Spurensuche in Chan Scheichun
Foto: OMAR HAJ KADOUR/ AFPDer Besuch von US-Außenminister Rex Tillerson in Moskau steht im Zeichen des Syrienkriegs. Seit dem Giftgaseinsatz von Chan Scheichun am 4. April, bei dem mindestens 87 Menschen ums Leben kamen, haben sich die Spannungen zwischen den USA und Russland deutlich verschärft. Beide Staaten vertreten nach außen zwei völlig gegensätzliche Versionen der Ereignisse vom vergangenen Dienstag.
Für Washington steht fest, dass das Assad-Regime die Stadt mit einem Nervengift angegriffen hat. "Es gibt keinen Zweifel, dass das syrische Regime verantwortlich ist", sagte US-Verteidigungsminister James Mattis. "Ganz ehrlich, Putin unterstützt eine Person, die wirklich eine böse Person ist", sagte Donald Trump mit Blick auf Diktator Baschar al-Assad. Der Kreml behauptet hingegen, die Substanz sei freigesetzt worden, als die syrische Luftwaffe ein Chemiewaffenlabor der Rebellen bombardierte.
Video: Frostiger Empfang für US-Außenminister Tillerson
Mehr als eine Woche ist seit dem Vorfall vergangen. Was ist bislang über die Ereignisse in Chan Scheichun bekannt?
Der Zeitpunkt des Vorfalls
Um 6.30 Uhr Ortszeit meldeten Augenzeugen aus der Stadt Luftangriffe. Um 7.59 Uhr veröffentlichte der lokale Reporter Mohammed Sallum al-Abd auf YouTube ein Video, das die Attacke zeigt. Zu sehen sind mehrere große Rauchsäulen und eine kleinere, etwas abseits. Im Titel des Videos schreibt Abd, dass bei dem Angriff "Giftbomben" eingesetzt worden seien. Anhand des Sonnenstandes zeigt sich, dass das Video kurz nach Sonnenaufgang aufgenommen worden sein muss. Am vergangenen Dienstag ging die Sonne in Chan Scheichun etwa um 6.15 Uhr auf.
Gegen 10 Uhr Ortszeit melden auch Nachrichtenagenturen unter Verweis auf Ärzte und zivile Helfer vor Ort, dass bei dem Angriff Giftgas eingesetzt worden sei. Videoaufnahmen von Opfern mit Atemnot und Krampfanfällen kursieren zu dieser Zeit bereits im Internet.
Trotz dieser Faktenlage präsentiert Russland eine ganz andere Version: Demnach habe die syrische Luftwaffe "zwischen 11.30 und 12.30 Uhr einen Angriff im Raum des östlichen Randes der Ortschaft Chan Scheichun auf ein großes Depot mit Munition und Militärgerät der Terroristen ausgeführt", sagte Igor Konaschenkow, Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums. "Auf dem Territorium dieses Depots befanden sich Hallen zur Herstellung von Sprengminen, die mit Giftstoffen gefüllt werden."
Das Gift sei durch den Angriff freigesetzt worden und habe den Tod der Menschen in Chan Scheichun verursacht - so die Version Russlands, die der syrische Außenminister Walid al-Muallem am vergangenen Donnerstag wiederholte. Der erste Angriff sei um 11.30 Uhr erfolgt, behauptete der Minister.
Der Tatort
Diese russisch-syrische Version kann nicht stimmen und ist durch die Videoaufnahmen aus Chan Scheichun eindeutig widerlegt. Hinzu kommt: Russland spricht davon, der Angriff auf die angebliche Chemiewaffenwerkstatt sei am östlichen Stadtrand von Chan Scheichun erfolgt. Die Menschen, die durch den Giftgaseinsatz ums Leben kamen, lebten jedoch am nördlichen Stadtrand. Genau dort findet sich auch ein kleiner Krater, den die mit dem chemischen Kampfstoff gefüllte Munition offenbar hinterließ.

Krater in Chan Scheichun
Foto: OMAR HAJ KADOUR/ AFPKareem Shaheen, Journalist der britischen Zeitung "Guardian", besuchte Chan Scheichun am Tag nach dem Angriff . Er fand rund um den Krater im Norden der Stadt zahlreiche unbeschädigte Häuser, in denen Menschen umgekommen waren. Und er entdeckte zahlreiche Getreidesilos und eine Lagerhalle, die zerstört waren. Satellitenbilder belegen, dass diese Gebäude bereits mindestens seit Februar 2017 zerstört waren. Anwohner berichteten Shaheen sogar, dass die Gebäude bereits vor rund einem halben Jahr getroffen wurden.
Fest steht: Es gibt keinen Hinweis darauf, dass in dem Teil von Chan Scheichun, aus dem die Giftgasopfer stammen, am vergangenen Dienstag überhaupt ein Haus getroffen wurde. Es gibt nur den Krater in der Straße.
Ort und Zeit, die das russische Verteidigungsministerium nannte, passen eher zu einer zweiten Angriffswelle am vergangenen Dienstag. Zur Mittagszeit bombardierten Kampfjets das Krankenhaus und das Zentrum des Zivilschutzes. Das Krankenhaus liegt am äußersten östlichen Stadtrand von Chan Scheichun. Die Helfer hatten das Hospital dort teilweise unter der Erde errichtet, um es vor Luftangriffen zu schützen.
Trotzdem wurde es bei dem Luftangriff am Dienstagmittag schwer beschädigt. Das Krankenhaus liegt rund zwei Kilometer Luftlinie von dem Gebiet im Norden der Stadt entfernt, aus dem die meisten Giftgasopfer stammten. Die US-Regierung wirft Russland und Syrien vor, sie hätten versucht, mit dem Angriff auf das Hospital Beweise für den Giftgaseinsatz zu vernichten.
Das Flugzeug
Rebellen, Augenzeugen und das Pentagon berichten übereinstimmend, dass ein Kampfjet vom Typ Suchoi Su-22 den Giftgasangriff ausgeführt habe. Ein Funküberwacher der Rebellen berichtete, dass um 6.26 Uhr ein Suchoi-Jet mit der Kennung Quds 1 vom Luftwaffenstützpunkt Schairat bei Homs abhob. Kurz darauf gefolgt von einem zweiten Bomber, dessen Pilot die Kennung Quds 6 trug. Pilot Quds 1 sei dann derjenige gewesen, der das Gift über Chan Scheichun abwarf.
Um 9 Uhr Ortszeit am Dienstag berichtete auch die lokale Facebook-Nachrichtenseite "Linse auf Chan Scheichun und Umgebung", dass "zwei Suchoi-22-Jets des Assad-Regimes" die Stadt mit Giftgas angegriffen hätten.
Das Pentagon veröffentlichte eine Grafik, die den Kurs des Su-22-Flugzeugs zeigen soll, das den Angriff ausführte. Demnach kreiste der Jet zwischen 6.37 und 6.43 Uhr über Chan Scheichun.
Pentagon releases graphic showing path of plane that took off from Shayrat Air Base to location of chemical attack. https://t.co/7RBHdxBZ4J pic.twitter.com/S4KLYcS1F3
— ABC News (@ABC) April 7, 2017
Der syrische Pilot mit der Kennung Quds 1 soll nach Angaben der Rebellen, die den Funkverkehr der Luftwaffe abhören, auch für einen Giftgasangriff auf den Ort Latamne am 30. März verantwortlich gewesen sein. Damals wurden mehrere Personen verletzt, sie zeigten ähnliche Symptome wie Sarin-Opfer.
Der Pilot
Am Freitag besuchte der Generalstabschef der syrischen Armee, Ali Abdullah Ayoub, den Luftwaffenstützpunkt Shairat - wenige Stunden nachdem dort 59 Tomahawk-Marschflugkörper des US-Militärs eingeschlagen waren. Das Verteidigungsministerium in Damaskus veröffentlichte ein Video, auf dem unter anderem zu sehen ist, wie Ayoub mehrere Soldaten beglückwünscht.
Fares Shehabi, Assad-treuer Parlamentsabgeordneter und Chef der syrischen Industriellenvereinigung, twitterte dazu: "Der syrische Generalstabschef dankt Pilot Haytham Hasouri dafür, dass er al-Qaidas Waffenlager in Chan Scheichun, Idlib, zerstört hat." Inzwischen hat Shehabi den Tweet gelöscht.
Including Assad MP Fares Shehabi pic.twitter.com/0v0Jey6sVi
— S. Rifai (@THE_47th) April 10, 2017
Bereits am Dienstag hatte das syrische Oppositionsmedium "Orient News" berichtet, dass Hasouri der Pilot mit der Kennung Quds 1 sei - also jener Pilot, der das Gift auf Chan Scheichun abwarf. Ahmad Rahal, ehemaliger Brigadegeneral der syrischen Luftwaffe, identifizierte den Mann gegenüber der "Times" auf den Bildern des Verteidigungsministeriums ebenfalls als Hasouri . Er sei Generalstabschef der 50. Brigade der syrischen Luftwaffe, die in Schairat stationiert ist. Eine unabhängige Bestätigung dafür, dass Hasouri wirklich für den Angriff verantwortlich ist, gibt es bislang aber nicht.
Am Wochenende behaupteten Oppositionelle, Hasouri sei bei einem Bombenanschlag ums Leben gekommen. Angeblich wollte das Regime so den wichtigsten Zeugen des Angriffs aus dem Weg räumen.
Doch das kann nicht stimmen: Am Dienstag, genau eine Woche nach dem Luftschlag auf Chan Scheichun, flog Quds 1 schon wieder. Um 13.43 Uhr hörte ein Funküberwacher einen Funkspruch ab. Quds 1 bestätigte demnach, in Richtung der Kleinstadt Suran zu fliegen, die in der Nähe der Front zwischen Assads-Truppen und Rebellen in der Provinz Hama liegt. Um 14.55 Uhr kehrte er aus Richtung der Provinz Damaskus, wo er Bomben abgeworfen habe, wieder auf den Luftwaffenstützpunkt zurück. Nach Angaben des Funküberwachers hatte Quds 1 an diesem Dienstag dieselbe Stimme wie vor einer Woche.
Die Munition
Noch immer ist auch unklar, in welcher Art von Munition das Gas enthalten war. Wenn man annimmt, dass sämtliche Zeugen vor Ort lügen, könnte der Krater im Norden von Chan Scheichun auch von einer Artilleriegranate verursacht worden sein. Über derartige Waffen verfügen auch die Terrormiliz Eroberungsfront Syriens und Rebellengruppen in der Provinz Idlib, in der die Stadt liegt. Doch eine Woche lang hatten nicht einmal die syrische oder russische Regierung den Vorwurf erhoben, dass Anti-Assad-Milizen selbst das Giftgas per Artillerie auf Chan Scheichun abfeuerten, um damit eine Intervention des Westens in Syrien zu provozieren.

Krater mit Resten der Munition
Foto: Edlib/ dpaErst am Dienstag brachte Wladimir Putin diese Theorie indirekt ins Spiel. Der russische Präsident warnte vor künftigen "Provokationen" mit chemischen Waffen in Syrien. Moskau lägen Informationen vor, wonach unter anderem südlich von Damaskus "Substanzen verstreut werden sollen, um den syrischen Behörden vorzuwerfen, sie hätten dies getan". Ohne das explizit so zu sagen, unterstellte Putin damit, dass auch der Angriff auf Chan Scheichun von den Rebellen inszeniert wurde.
Der Kreml-Chef verglich den US-Angriff auf die syrische Luftwaffenbasis Schairat mit der US-geführten Invasion im Irak 2003. Putin verwies zurecht darauf, dass die Amerikaner damals mit dem falschen Vorwand in das Land einmarschiert waren, sie wollten dem Regime von Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen entreißen. Doch anders als damals sind sich diesmal alle einig, dass in Chan Scheichun eine Massenvernichtungswaffe zum Einsatz kam.
Das Gift
Nach Angaben des türkischen Gesundheitsministeriums haben Blut- und Urintests von Opfern, die in türkischen Krankenhäusern untersucht wurden, zweifelsfrei erwiesen, dass Sarin eingesetzt wurde. Ein entsprechendes Zerfallsprodukt sei nachgewiesen worden, sagte Gesundheitsminister Recep Akdag. Auch das Weiße Haus teilte mit, dass in Proben Sarin nachgewiesen worden sei. Vertreter der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) waren bei der Autopsie anwesend. Beide Organisationen haben bekanntgegeben, dass die Opfer allem Anschein nach einem Nervengift ausgesetzt wurden. Ob es sich dabei tatsächlich um Sarin oder doch einen ähnlichen Stoff wie Tabun handelt, ist unklar.
Sarin ist eigentlich geruchslos. Trotzdem berichteten einige Überlebende aus Chan Scheichun von beißendem Geruch. Ähnliche Zeugenberichte gab es bereits nach dem Giftgaseinsatz auf Vororte von Damaskus am 21. August 2013. Das kann daran liegen, dass dem Sarin andere Chemikalien beigemischt waren. Oder der Geruch stammt von einem der Ausgangsstoffe für die Produktion von Sarin. Nach dem Sarin-Anschlag auf die U-Bahn von Tokio 1995 oder nach dem irakischen Giftgasangriff auf die kurdische Stadt Halabdscha 1988, bei dem auch Sarin eingesetzt wurde, berichteten Überlebende ebenfalls von markanten Gerüchen.
Assad hatte im September 2013 zugesagt, sämtliche Chemiewaffen zu zerstören. Unter Aufsicht der OPCW wurden daraufhin alle offiziell deklarierten Chemiewaffen auf einem Spezialschiff im Mittelmeer unschädlich gemacht - insgesamt rund 1300 Tonnen.

US-Spezialschiff "Cape Ray"
Foto: MARIO TOSTI/ AFPAllein: Es waren eben nur jene C-Waffen, die das Assad-Regime selbst deklarierte. Bis dahin hatte Damaskus kategorisch bestritten, überhaupt Giftgas zu besitzen. Es gibt Zweifel, dass Syrien wirklich sämtliche Chemiewaffen außer Landes schaffen ließ. OPCW-Inspektoren fanden mehrfach - unter anderem im Dezember 2014 und Januar 2015 - Spuren der Nervengase Sarin und VX an einer militärischen Forschungsstätte in Syrien. Das Regime habe den Fund nicht zufriedenstellend erklären können, hieß es damals aus Kreisen der OPCW-Ermittler. Der Chemiewaffenexperte John Gilbert schätzt, dass in Chan Scheichun gerade einmal 20 Liter Sarin zum Einsatz kamen.
Bislang gibt es keine Hinweise darauf, dass syrische Rebellen Sarin oder ein ähnliches Gift besitzen oder jemals besessen haben. Zwar behauptete das russische Militär, Aufständische in Aleppo hätten im vergangenen Jahr Chlorgas gegen die syrische Armee eingesetzt. Einen Beleg dafür gibt es bis dato nicht. Die OPCW hat die Prüfung dieser Vorwürfe bisher nicht abgeschlossen.
Doch Sarin ist deutlich komplizierter herzustellen als Chlorgas und instabil; es wird meist kurz vor dem Einsatz aus zwei Komponenten gemischt. Eine davon ist hochexplosiv und hätte einen gewaltigen Feuerball erzeugt, wenn sie von einer Bombe getroffen worden wäre. Davon war nach dem Angriff am vergangenen Dienstag nichts zu sehen.
Die Verschwörungstheorien im Netz
Verschwörungstheorien gedeihen auch noch eine Woche nach dem Angriff. Dabei tritt im Internet ein interessantes Netzwerk zu Tage, das sie verbreitet: Assad-nahe Portale aus Nahost, Websites aus Russland sowie amerikanische Meinungsmacher der Verschwörungs- und neurechten Szene sorgen dafür, dass die irreführenden Theorien in den sozialen Netzwerken die Runde machen - über die jeweilige Filterblase hinaus.
Interessanterweise ist hierbei nicht die Rede von der Theorie der russischen Armee, nach der ein Luftangriff auf ein Waffenlager irrtümlich die Kampfstoffe freigesetzt haben soll, sondern von einer anderen Geschichte. Eine, die sich im Netz verbreiten kann, weil sie eine starke emotionale Komponente hat: Nämlich, dass die Kinder absichtlich umgebracht wurden, um einen Gasangriff nur zu inszenieren und politisch zu instrumentalisieren.
Den Auftakt machte ein Meinungsstück im englischsprachigen Blog Al Masdar News, der dem Assad-Anhänger Leith Abou Fadel gehört und regelmäßig Rebellen für Verbrechen verantwortlich macht, die andere Assad zuschreiben.
Dort sät Autor Paul Antonopoulos Zweifel an einem Giftgasangriff. Etwas sei nicht stimmig, heißt es noch vorsichtig in der Überschrift . Im Text, der noch am Tag des Vorfalls am 4. April erscheint, spricht er von einem "false flag scenario". So bezeichnet man eine Operation, die nur dafür inszeniert wird, um sie anderen in die Schuhe zu schieben. Es sei doch seltsam, dass die zivilen Helfer vor Ort, die sogenannten Weißhelme, keinerlei Schutzkleidung trügen. Die Toten könnten zuvor von al-Qaida entführt worden sein.
Und es wird der Tweet eines Reporters des Oppositionsmediums "Orient News" zitiert, der bereits am Tag vor den Angriffen ankündigte, man plane eine Medienkampagne, um die syrischen und russischen Luftangriffe inklusive Chemiewaffeneinsatz in der Region Hama zu dokumentieren.
Hat der Journalist also vorab von dem Giftgaseinsatz gewusst? Verschwiegen wird, dass es in der Region um Hama in den vergangenen Wochen bereits mehrere kleinere Angriffe gegeben hat, bei denen wohl auch Chemiewaffen zum Einsatz kamen. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen vermutet dies etwa für einen Angriff auf das Krankenhaus in Latamne am 25. März oder den bereits erwähnten Angriff vom 30. März.
Der Hashtag #syriahoax
Den Beitrag übernimmt einen Tag später wortgleich die einflussreiche Verschwörungsseite "globalresearch.ca" von Wirtschaftsprofessor Michel Chossudovsky, der sich etwa mit der "Kriegsagenda von Nato und USA" beschäftigt. Von hier aus schwappt der Bericht nicht nur zu "Russia Today", sondern auch in die US-Gegenöffentlichkeit, durch die Verschwörungsseiten und Netzwerke der Alt-Right-Bewegung.
Etwa zu Alex Jones' Verschwörungsseite "Infowars", wo die Argumente übernommen werden und nun die Rede davon ist, dass "alle Anzeichen einer false flag operation" vorlägen. Hier werden die Weißhelm-Retter, die auch von der Stiftung von George Soros - einem Lieblingsziel der rechten Verschwörungsszene - finanziert werden, verantwortlich gemacht. Überschrift: Soros-Linked Group Behind Chemical Attack in Syria (Gruppe mit Verbindungen zu Soros steht hinter Chemiewaffenangriff in Syrien).
Wer Jones kennt, wundert sich nicht: Er hatte bereits das Massaker an der Grundschule von Sandy Hook (2012) und die Bombenanschläge auf den Boston-Marathon (2013) als Fakes betitelt. Neu ist, dass ihn der Verschwörungswahlkampf in den USA noch einflussreicher gemacht hat und er über einen Draht ins Weiße Haus verfügt .
Jones und andere beginnen, die Sichtweise in den Netzwerken zu verbreiten. Auf Twitter schafft es der Hashtag #syriahoax erstmals am vergangenen Donnerstag unter die meist diskutierten Themen - die Theorie ist nun also für Nutzer sozialer Netzwerke wie Twitter kaum noch zu übersehen.
Dabei helfen Dutzende Accounts mit, die den Hashtag in hoher Frequenz benutzen, und bei denen unklar ist, ob sie von Menschen bedient werden oder sogenannte social bots sind, also Programme, die vorgeben, Menschen zu sein. Hier stellen sich also Verschwörungsanhänger, die Donald Trumps schärfste Waffe im Netzwahlkampf waren, gegen die Erzählung ihres Präsidenten. Die neue Konstellation treibt seltsame Blüten. Der selbsternannte Alt-Right-Anführer Richard Spencer hat etwa seinen Profilnamen mit der syrischen Flagge versehen.
Die Weißhelme als Mörder
Eine neue Zuspitzung erfährt die Geschichte auf der Verschwörungsseite "Veterans Today" von Verschwörungstheoretiker und Holocaustleugner Gordon Duff - der Angriff ist nun ein Werk von "CIA, al-Qaida und britischem Geheimdienst". Trump habe gar das Cyber-Kommando der US-Armee angewiesen, die Server der Website zu attackieren - um diese Geschichte zu verschweigen. Es ist also eine Verschwörungsgeschichte in Reinform, aber offenbar glaubwürdig genug für russische Seiten. Das Portal Sputnik, von der staatlichen Agentur Rossija Sewodnja gegründet, verweist am Samstag auch auf seiner deutschsprachigen Seite auf den Bericht unter der Überschrift: "Schwedische Ärzte: Weißhelme töten Kinder für Fake-Video der Giftgasattacke".
Als Kronzeugin dient die NGO Schwedische Ärzte für Menschenrechte, die tatsächlich bereits Weißhelme kritisiert hat. Kurz nach den Berichten stellt sie aber klar: Man habe den Weißhelmen weder die Inszenierung der Giftgasattacke noch den Mord an Kindern in Chan Scheichun unterstellt. Ihnen geht es um einen Angriff aus dem Jahr 2015 .
Sputnik formuliert den Bericht wenige Tage später um. Bei anderen Websites wie News Front, die regelmäßig Beiträge von Russia Today oder Sputnik veröffentlichen, ist die Lüge noch immer zu lesen, ebenso bei "Veterans Today". Wer will, findet also jederzeit zwei Quellen für die Verschwörungstheorie.
Der Giftgasangriff von 2013
In Deutschland verbreitet vor allem der Buchautor Michael Lüders Zweifel an der Schuld des Regimes. Er insinuiert, dass am ehesten die Rebellen Motive für den Chemieangriff am 4. April gehabt hätten. Zudem behauptet er, dass "mit einer sehr großen Wahrscheinlichkeit nicht das Regime" für den großen Sarin-Angriff auf ein halbes Dutzend Vorstädte von Damaskus am 21. August 2013 verantwortlich war.

Michael Lüders
Foto: imago/ Jürgen HeinrichNach Lüders' These, die er in der ZDF-Talkshow mit Markus Lanz vorstellte, sei alles ganz anders gewesen: Nicht die syrische Armee habe ihre Gegner angegriffen, sondern der türkische Geheimdienst habe die Radikalen der Nusra-Front mit Sarin versorgt. Die hätten den Kampfstoff dann inmitten der Oppositionsgebiete eingesetzt. Türkische Journalisten, die darüber berichten wollten, seien verhaftet worden. Als Kronzeugen führte er Can Dündar an, den ehemaligen Chefredakteur der türkischen Tageszeitung "Cumhuriyet". Dündar habe über die Sarin-Lieferung an die Nusra-Front berichtet und sei deshalb verfolgt worden.
Das klingt interessant, und tatsächlich wurde in der Türkei Anklage wegen Terrorunterstützung gegen Dündar erhoben, der inzwischen nach Deutschland geflohen ist. Doch der gesamte Rest stimmt nicht. Die Recherchen, unter anderem der OPCW, deren Inspektoren 2013 nach langem Hinhalten die Einschlagstellen untersuchen konnten, kamen in drei Kernbereichen zu eindeutigen Ergebnissen:
Schon 2012 entwickelte die syrische Armee die sogenannte "Vulkan-Rakete" , eine Lkw-gestützte Abschussvorrichtung, um Chemiewaffen auch auf kurze Distanz präzise abschießen zu können. Zuvor war das riesige syrische Chemiewaffen-Arsenal als strategische Abschreckung gegen Israel entwickelt worden mit Gefechtsköpfen für Scud-Raketen. Deren Mindestflugbahn aber würde den Einsatz gegen Ziele, die nur wenige Kilometer entfernt liegen, nicht möglich machen. Die eigene Nachbarschaft zu vergasen, war ursprünglich nicht geplant gewesen.
Die markante Vulkan-Konstruktion tauchte bereits Ende 2012 und Anfang 2013 in Videos und Bildern von Militärflughäfen auf. Es waren unter anderem diese Vulkan-Raketen, die im August 2013 das Sarin transportierten. Die klar erkennbaren Reste der Raketen wurden schon wenige Stunden nach dem Angriff fotografiert. An ihren Einschlagsstellen ließ sich später die höchste Konzentration der Abbauprodukte von Sarin finden.
- Das Sarin
In den analysierten Proben aus dem Angriffsgebiet wie später in den Ausschreibungsdetails zur Vernichtung der syrischen Chemiewaffenbestände taucht eine ungewöhnliche Konzentration der Chemikalie Hexamin auf . Laut Aussage von Ake Sellström, dem schwedischen Leiter des Uno-Untersuchungsteams, benutzte das syrische Militär Hexamin als Korrosionsschutz, um die Gefechtsköpfe vor den aggressiven Säuren zu schützen, die Teil der chemischen Zusammensetzung von Sarin sind. Es war gewissermaßen eine chemische Signatur syrischen Sarins.
Am Morgen des 21. August 2013 wurden etwa 500 Liter Sarin fast zeitgleich über weit auseinanderliegenden Ortschaften verschossen, sowohl südwestlich wie nordöstlich von Damaskus. Anhand der Einsturzwinkel - die Raketen enthielten ja keinen Sprengstoff - ließen sich in mehreren Fällen als mutmaßlicher Ort des Abschusses Stellungen der Armee lokalisieren. Darüber hinaus waren die attackierten Orte schon damals belagert, von der als Ghuta bezeichneten Gegend im Nordosten gab es keinen Zugang nach Muadamija im Südwesten.
Alle überprüfbaren Aspekte ergaben schon damals einen klaren Verantwortlichen: das syrische Militär. Dass die OPCW dies in ihrem Abschlussbericht nicht ausdrücklich schrieb, lag daran, dass Moskau und Damaskus der Inspektion durch Uno und OPCW überhaupt nur unter der Bedingung zugestimmt hatten, dass kein Schuldiger benannt wird.
Alle "alternativen Fakten" wiederum scheitern daran, dass die Türkei kein Chemiewaffenprogramm und kein Sarin besitzt , dass das Trägersystem bekannt ist und die Nusra-Front sowohl das Sarin wie die Vulkan-Raketen zuvor von der Armee erbeutet haben müsste, um es dann einsetzen zu können. Doch einen Verlust von Sarin hat Damaskus stets dementiert.
Und Can Dündar, der türkische Ex-Chefredakteur? Er beschwerte sich in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung", dass Lüders Einlassung "totaler Unsinn" sei. "Cumhuriyet" hatte damals berichtet, dass türkische Polizisten eine Waffenlieferung des Geheimdienstes gestoppt hatten. Von einem Schmuggel türkischen Sarins oder anderer Chemiewaffen nach Syrien war keine Rede.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes hieß es, Michael Lüders habe behauptet, der Chemieangriff von Chan Scheichun am 4. April 2017 sei nicht das Werk von Assads Armee gewesen. Der Buchautor legt Wert auf die Feststellung, dass er dies nicht behauptet, sondern lediglich erklärt habe, dass die Urheberschaft dieses Giftgaseinsatzes nicht einwandfrei erwiesen sei.