Weißhelme in Aleppo: "Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Menschheit"
Helfer in Aleppo
"Über uns ist die Hölle hereingebrochen"
Sie graben mit bloßen Händen nach Verschütteten, retten Verletzte und werden selbst zum Ziel von Bombenangriffen: die Weißhelme in Aleppo. Einer der Ersthelfer schildert die verzweifelte Lage in der Stadt.
Aleppo erlebt nach dem Ende der zwischenzeitlichen Feuerpause die schwersten Luftangriffe seit Beginn des Syrienkriegs. Syrische und russische Luftwaffe nehmen den Ostteil der Stadt unter Dauerbeschuss, Hunderte Menschen sind bei den Bombenangriffen ums Leben gekommen.
Einer dieser Helfer auf gefährlicher Mission ist Ammar Salmo, 31. Er ist Sprecher der Weißhelme in Aleppo. SPIEGEL ONLINE hat ihn am Dienstag telefonisch erreicht. Im Interview beschreibt er den verzweifelten Überlebenskampf in der Stadt, wie schon Verletzte in Leichensäcke gelegt werden, und warum er nicht aus Aleppo geflohen ist, als es noch möglich war. 300.000 Menschen sind aktuell im Osten der Stadt eingeschlossen.
SPIEGEL ONLINE: Herr Salmo, wie ist die aktuelle Lage in Aleppo?
Salmo: Im Moment ist es so ruhig wie seit acht Tagen nicht mehr. Ruhig heißt, dass es am Montag nur 40 Luftangriffe gab, bei denen 26 Menschen getötet wurden. In den Tagen davor waren es täglich zwischen 120 und 140 Bombenangriffe. Heute, am Dienstag, gab es noch gar keinen Luftangriff, aber die Regimetruppen beschießen Ost-Aleppo mit Artillerie.
SPIEGEL ONLINE: Und wie sieht die Situation seit dem Ende der Feuerpause insgesamt aus?
Salmo: Vor der Waffenruhe hatten die russische und die syrische Armee hauptsächlich Fass- und Vakuumbomben über Aleppo abgeworfen. Seit 19. September ist die Hölle über uns hereingebrochen: Sie greifen uns mit Phosphorbomben an, die Leute zu Tode verbrennen. Sie werfen bunkerbrechende Bomben ab, die mehrstöckige Häuser dem Erdboden gleichmachen. Am schlimmsten aber sind die Splitterbomben.
SPIEGEL ONLINE: Warum?
Salmo: Die Splitterbomben bestehen aus vielen kleinen Metallteilen, die Menschen in großem Umkreis verwunden. Deshalb müssen die Ärzte in den Feldkrankenhäusern seit acht Tagen Hunderte Verletzte behandeln. Und die vier Krankenhäuser sind völlig überlastet: Die Ärzte müssen blitzschnell entscheiden, wen sie zuerst behandeln und wer warten muss. Viele Verletzte bringen wir inzwischen in Häuser in der Nähe der Krankenhäuser, weil in den Hospitälern kein Platz mehr ist. Dort liegen die Patienten schon auf dem Boden zwischen den Betten.
SPIEGEL ONLINE: Was sind die Folgen?
Salmo: Inzwischen müssen Menschen sterben, die wir vor ein paar Wochen noch hätten retten können. Ihre Verletzungen sind gar nicht so schwer, aber es sind einfach zu viele, und es dauert zu lange, bis wir sie behandeln können. Manchmal werden Verletzte in kritischem Zustand schon in Leichensäcke gelegt, weil es keine Hoffnung mehr für sie gibt.
SPIEGEL ONLINE: Welche Auswirkungen hat die Belagerung?
Salmo: Seit 84 Tagen ist Ost-Aleppo von der Außenwelt abgeschnitten. Das bedeutet zum einen, dass wir Schwerverletzte nicht mehr zur Behandlung in die Türkei bringen können. Und es bedeutet zum anderen, dass keine Medikamente und keine Ausrüstung mehr in die Stadt gelangen. Ich schätze, dass unsere Treibstoffvorräte noch etwa zehn Tage reichen. Aber genau kann das niemand sagen, wir leben von Tag zu Tag.
SPIEGEL ONLINE: Wie viele Ersthelfer sind für die Weißhelme in Aleppo im Einsatz?
Salmo: Wir sind viel zu wenige, insgesamt sind wir derzeit 120 Freiwillige. Das heißt, dass auch wir auswählen müssen, zu welchem bombardierten Haus wir überhaupt ausrücken. Manchmal dauert es zwei bis drei Tage bis wir die Leute unter den Trümmern ihrer Häuser geborgen haben. Oft arbeiten wir mit bloßen Händen. Dann ist es oft schon zu spät.
SPIEGEL ONLINE: Warum sind Sie nicht aus Aleppo geflüchtet, als es noch möglich gewesen wäre?
Salmo: Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Menschheit. Davon bin ich überzeugt. Wir leben ja auch nicht im Mittelalter, sondern im Jahre 2016. Die Menschen müssen einander helfen. Den Leuten in Deutschland kann ich nur sagen: Vergesst nicht, dass in Syrien nicht nur Armee und Milizen gegeneinander kämpfen. Zwischen ihnen sitzen Millionen Zivilisten fest, die einfach nur in Frieden, Freiheit und Sicherheit leben wollen. Und sie brauchen wirklich dringend Hilfe.
11 BilderWeißhelme in Aleppo: "Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Menschheit"
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Sie kommen, nachdem die Kampfjets ihre Bomben auf Aleppo abgeworfen haben: Die zivilen Helfer der syrischen Weißhelme.
Foto: AP/ White Helmets
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Seit dem 19. September 2016 erlebt der Ostteil der Stadt die schwersten Luftangriffe seit Kriegsbeginn. Russisches und syrisches Militär setzen Berichten zufolge neue bunkerbrechende Bomben ein, die mehrstöckige Häuser dem Erdboden gleichmachen.
Foto: AP/ White Helmets
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Oft werden die Weißhelme selbst zum Ziel der Bombenangriffe. Seit Beginn der neuen Offensive wurden sieben Fahrzeuge der Lebensretter zerstört.
Foto: AP/ White Helmets
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In der vergangenen Woche wurden die Weißhelme mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet, weil sie seit Jahren Menschenleben retten. Dieses Bild zeigt einen Helfer im Juni 2014.
Foto: SULTAN KITAZ/ REUTERS
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"Seit dem 19. September ist die Hölle über uns eingebrochen", sagt Ammar Salmo, Mitarbeiter der Weißhelme in Aleppo.
Foto: AMEER ALHALBI/ AFP
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Rund 300.000 Menschen harren noch im Osten der Stadt aus. Dort wirkt Aleppo über weite Strecken wie eine Ruinenstadt.
Foto: AMMAR ABDULLAH/ REUTERS
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Die Bomben hinterlassen tiefe Krater in den Straßen Aleppos.
Foto: ABDALRHMAN ISMAIL/ REUTERS
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Die syrische Armee will den Osten der Stadt nach vier Jahren zurückerobern. An mehreren Stellen konnten die Truppen von Diktator Baschar al-Assad in den vergangenen Tagen vorrücken, andernorts erlitten sie Rückschläge.
Foto: DPA/ SANA
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Oft brauchen die Helfer Tage, um Verschüttete aus den Trümmern ihrer Häuser zu befreien. Dann ist es meist schon zu spät.
Foto: THAER MOHAMMED/ AFP
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Im Norden Aleppos versuchen Rebellen, eine Offensive gegen die Truppen des syrischen Regimes vorzubereiten.
Foto: KHALIL ASHAWI/ REUTERS
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Die Lage in Aleppo ist zunehmend verzweifelt. Seit 84 Tagen ist das Gebiet abgeriegelt.