Tagebuch aus Nordsyrien
»Auf keinen Fall will ich einen russischen Impfstoff«
Fast ein Jahr ist es her, dass die Hajj Abdos aus ihrem Haus in Syrien gebombt wurden. Seitdem lässt die Familie die SPIEGEL-Leser an ihrem Leben im Flüchtlingscamp teilhaben. Corona, Kälte, Kinderfest: Die Eltern berichten.
Ein Kind in einem der Flüchtlingslager bei Azaz im Norden Syriens. Hunderttausende sind allein in diesem Jahr Vertriebene im eigenen Land geworden
Foto:
KHALIL ASHAWI / REUTERS
Ungefähr zu der Zeit, als in Deutschland die Innenminister von Bund und Ländern darüber diskutieren, ob vielleicht bald wieder Asylbewerber nach Syrien abgeschoben werden könnten, schlägt im syrischen Heimatort der Familie Hajj Abdo eine Bombe ein.
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für globale Probleme.
Anfang Dezember ist es da, und eigentlich sollte in Idlib, im Nordwesten Syriens, eine Waffenruhe gelten, aber Omer Hajj Abdo, der Familienvater, sagt, das Bombardement rund um sein Haus habe eigentlich nie wirklich aufgehört.
Sein Haus und das seiner Frau Khadija und der sechs Kinder liegt im Dorf Teqad bei Aleppo. Im vergangenen Winter, als sich durch den Ort die Kriegsfront zog und Truppen des Machthabers Assad es beschossen, flüchtete die Familie, so wie Hunderttausende andere Familien aus der Region. Ihr Ziel: der Norden des Landes, nahe der türkischen Grenze. Dort, in einem Camp nahe Asas, strandete die Familie Hajj Abdo, dort lebt sie seit bald einem Jahr.
Omer und Khadija (mit Kopftuch) Hajj Abdo mit vier ihrer sechs Kinder im Sommer 2020
Foto:
privat
Seitdem lassen die Hajj Abdos den SPIEGEL an ihrem Alltag teilhaben. Sie berichten aus ihrem Leben im Flüchtlingslager und wie man das aushält, wenn eine Ausnahmesituation zum Alltag wird.
Jetzt, wo sich dieses neue Leben bald zum ersten Mal jährt, schauen Khadija und Omer Hajj Abdo zurück, und sie versuchen auch einen Blick nach vorn, obwohl beide sagen, dass sie es aufgegeben haben, weit in die Zukunft zu planen. Omer Hajj Abdo beginnt:
Samstag, 28. November 2020:
»Zum Internationalen Kindertag haben die Organisationen hier im Camp vor ein paar Tagen ein großes Fest für die Kids veranstaltet. Es wurde gesungen, getanzt, und viele Aktivitäten wurden angeboten. Meine Mädchen haben sich schöne Kleider angezogen; ich habe viele Fotos gemacht.
Kinder im Camp beim Fest zum Weltkindertag im November
Foto: privat
Meine älteste Tochter hat dort auf der Bühne eine Rede gehalten. Sie sagte, sie möchte, dass alle Kriege und Gewalt enden. Ich war sehr stolz auf sie. Für meine Kleinste, sie ist ja noch nicht mal sechs und deswegen noch nicht in der Schule, war es ein besonders tolles Fest. Sie fragt mich seitdem fast jeden Tag, ob ich ihr die Fotos vom Kindertag auf dem Handy zeigen kann.«
Montag, 30. November 2020:
»Corona ist jetzt überall in Syrien. Auch viele Leute hier im Camp sind infiziert. Neulich wurde einer meiner Kollegen von der NGO, bei der ich arbeite, positiv getestet. Ich war kurz vorher noch mit ihm zusammen. Aber bisher habe ich keine Symptome. Ich hoffe, ich komme noch mal davon. Ich versuche, mich irgendwie zu schützen. Trinke heißen Tee, sogar Kamille! Damit hätte man mich früher jagen können – aber jetzt gehört der Kamillentee zu unserer Familie wie ein Ritual. Viel mehr können wir nicht tun, um uns zu schützen. Abstand ist Luxus hier. Desinfektionsmittel auch. Wenigstens haben wir Alltagsmasken.«
Die Kinder der Hajj Abdos haben sich fürs Kinderfest im Partnerinnenlook gekleidet
Foto: privat
Mittwoch, 2. Dezember 2020:
»Es wird jetzt viel über den Impfstoff diskutiert hier im Camp, wer sich impfen lassen will oder eben nicht. Und auch darüber, welcher Impfstoff wohl der beste ist. Es wird aber noch lange dauern, bis überhaupt ein Impfstoff hier in Syrien ankommt.
Ich vertraue dem Impfstoff aus Europa am meisten und auf dessen transparente Herstellung. Definitiv traue ich nicht dem russischen. Russische Truppen haben unser Haus zerbombt – auf keinen Fall will ich einen russischen Impfstoff!«
In einem internen Bericht des Auswärtigen Amts heißt es, in Syrien seien Menschen überall »Risiken ausgesetzt, die eine Gefahr für Leib und Leben darstellen können«.
Dennoch diskutieren die Innenminister von Bund und Ländern an diesem Tag, ob der Abschiebestopp nach Syrien gelockert werden könnte. Seit 2012 schiebt Deutschland nicht mehr in das Bürgerkriegsland ab.
Die Rufe, den pauschalen Stopp aufzuheben, werden lauter. Etwa von Norbert Röttgen, Kandidat für den CDU-Vorsitz. Er sagt, schließe man Abschiebungen weiter generell aus, zum Beispiel auch bei Straftätern, werde Deutschland »ein Schutzort für terroristische Gefährder«.
Kinder erhalten im Mai 2020 Essen von NGOs, nachdem ihr Ort in der Region Aleppo durch Beschuss zerstört wurde. Aus der Gegend stammen auch die Hajj Abdos
Foto: Khalil Ashawi / REUTERS
Omer Hajj Abdo sagt:
»Ich würde gern in unser Dorf zurückkehren. Doch es steht weiter unter Bombenbeschuss. Es gibt ein paar Verwandte, die trotzdem wieder dort leben. Wenn die Bomben kommen, rennen sie zum Auto und fahren weg. Nach dem Essen packen sie die Reste immer in Plastikboxen, für den Fall, dass sie wieder Hals über Kopf fliehen müssen. Sie haben auch etwas Kleidung in Taschen am Eingang gelagert. Sie leben nicht mehr das Leben von früher, sie leben ein Leben in Angst.
Ehrlich gesagt, selbst wenn die Bomben nicht wären: Ich hätte schreckliche Angst, meiner Familie unser Haus zu zeigen. Es ist zur Hälfte zerstört. Es würde einige Tausend US-Dollar kosten, die Schäden zu reparieren. Wie soll ich das stemmen?«
Samstag, 12. Dezember:
Khadija Hajj Abdo berichtet:
»Mein Mann hat jetzt doch einen Ofen gekauft. Man betreibt ihn mit Diesel. Er ist teurer als ein Holzofen, aber er rußt nicht so. Wir haben ihn im Zelt aufgestellt. Das ist gefährlich – immer wieder fangen Zeltwände durch die Öfen Feuer. Aber wir haben keine Wahl. Es ist jetzt richtig kalt geworden. Wir müssen unser Zuhause warm halten.
Eindrücke vom Leben der Familie Hajj Abdo in diesem Video (Februar 2020):
DER SPIEGEL
Weihnachten feiern wir nicht, wir sind Muslime, wie die meisten im Camp. Aber egal welches Fest, sie müssen ohnehin fast alle ausfallen hier.
Und, ach, der ganze Matsch! Wenn es regnet, sind die Wege hier überschwemmt, die Kinder bringen den Dreck ins Zelt. Es regnet sehr viel. Der Schlamm ist überall. Wir brauchen Gummistiefel, damit unsere Füße nicht nass werden. Gerade für mich ist das ein Problem: Ich muss die Wäsche von Hand waschen, das Wasser ist sehr kalt, und die Sachen brauchen zwei Tage, um zu trocknen.
»Wenn ich mich an Vergangenes klammere, nimmt mir das die Kraft, hier und jetzt zu überleben.«
Mutter Khadija Hajj Abdo
Die Waschmaschine können wir im Moment fast nie laufen lassen. Denn unser Strom kommt über eine Solarzelle – und die generiert in den dunklen Wintermonaten nicht genug Energie. Wir können damit gerade mal unsere Handys laden und eine kleine Batterie, mit der wir abends ein paar Lampen betreiben. Zwei Stunden haben wir damit Licht, dann wird es finster.«
Dienstag, 15. Dezember 2020:
»Meine Gefühle sind durcheinander. Ich würde gern zurück in unser Dorf. Aber mein Mann hat hier im Camp eine Arbeit gefunden, die Kinder haben sich in der Camp-Schule eingewöhnt. Sie schreiben wieder gute Noten. Ich denke, ich muss mich auf die Zukunft der Kinder konzentrieren, und diese Zukunft kann hier im Flüchtlingslager besser gelingen als in einem zerbombten Haus in der Heimat. Bitter ist das.
Manchmal bin ich traurig und wütend. Aber wir Vertriebenen haben gelernt, dass wir die Vergangenheit vergessen müssen, um nach vorn schauen zu können. Wenn ich mich an Vergangenes klammere, nimmt mir das die Kraft, hier und jetzt zu überleben.«
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel Globale Gesellschaft berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa - über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird über drei Jahre von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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Der SPIEGEL hat in den vergangenen Jahren bereits zwei Projekte mit dem European Journalism Centre (EJC) und der Unterstützung der Bill & Melinda Gates Foundation umgesetzt: Die "Expedition Übermorgen" über globale Nachhaltigkeitsziele sowie das journalistische Flüchtlingsprojekt "The New Arrivals", in deren Rahmen mehrere preisgekrönte Multimedia-Reportagen zu den Themen Migration und Flucht entstanden sind.
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Ein Kind in einem der Flüchtlingslager bei Azaz im Norden Syriens. Hunderttausende sind allein in diesem Jahr Vertriebene im eigenen Land geworden
Foto:
KHALIL ASHAWI / REUTERS
Omer und Khadija (mit Kopftuch) Hajj Abdo mit vier ihrer sechs Kinder im Sommer 2020
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Kinder im Camp beim Fest zum Weltkindertag im November
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Die Kinder der Hajj Abdos haben sich fürs Kinderfest im Partnerinnenlook gekleidet
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Kinder erhalten im Mai 2020 Essen von NGOs, nachdem ihr Ort in der Region Aleppo durch Beschuss zerstört wurde. Aus der Gegend stammen auch die Hajj Abdos