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Schüler in Syrien: Attackiert, bespitzelt, verhört

Foto: DIMITAR DILKOFF/ AFP

Schüler in Syrien Attackiert, bespitzelt, verhört

Syrien galt einst als Land mit gutem Bildungssystem. Doch seit Beginn des Bürgerkriegs geraten Schulen vermehrt ins Visier von Militär und Rebellen. Ein neuer Bericht von Human Rights Watch zeigt: Das Land droht eine ganze Schülergeneration zu verlieren.
Von Theresa Breuer

Berlin/London - An Mustafas Schule hat sich die Angst eingeschlichen. Jeder Lehrer konnte ein Regimespitzel sein, jeder Schüler ein Verräter. Nimmt der Klassenkamerad an Protesten teil? Schaut der Vater zu Hause al-Dschasira? Eltern schärften ihren Kindern ein, nicht mit den Lehrern zu sprechen. Manche behielten ihre Söhne gleich zu Hause.

Irgendwann hat es der Lehrer Mustafa in Syrien nicht mehr ausgehalten und ist nach Jordanien geflohen. Dort hat er der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) von der Paranoia erzählt, die an seiner Schule grassierte. Seine Erfahrungen sind in den neuen HRW-Bericht eingeflossen, der am Donnerstag erschienen ist.

Für die Studie hat Human Rights Watch Schüler, Eltern, Lehrer, Schulleiter und Angestellte des Bildungsministeriums interviewt. Die meisten von ihnen waren erst in den vergangenen Wochen und Monaten aus Syrien geflohen. Laut der Organisation beschrieben sich alle Interviewten als Gegner der Regierung. Über das Verhalten der Rebellen gegenüber Schülern und Schulen enthält der Bericht kaum Informationen.

Die Lage der Schüler im dritten Kriegsjahr ist dramatisch. Laut HRW sind Tausende Schulen seit Beginn des Konflikts beschädigt oder zerstört worden. Ehemalige Bildungseinrichtungen dienen inzwischen als Schutzräume für Flüchtlinge, andere besetzten Rebellen oder Regierungstruppen als Militärbasen. Viele Kinder haben Monate und Jahre der Bildung verloren.

Wer sich heute in die Schule wagt, lebt gefährlich

Lehrer und Schulleiter berichteten Human Rights Watch, dass heute nur noch höchstens halb so viele Kinder zur Schule gehen wie vor dem Krieg. Die Syrien-Untersuchungskommission der Uno hat außerdem festgestellt, dass die Teilnahme insbesondere in Gebieten unter Rebellenkontrolle stark eingeschränkt ist.

Dabei war Syrien bildungspolitisch einst ein Vorzeigeland in der arabischen Welt. Bis 2011 besuchten mehr als 90 Prozent der Kinder eine Grundschule und mehr als zwei Drittel weiterführende Schulen. Laut den Vereinten Nationen lag die Analphabetenrate unter jungen Menschen bei rund fünf Prozent.

Das könnte sich in den kommenden Jahren stark ändern. Wer sich heute noch in die Schule wagt, muss dort mit erheblichen Gefahren rechnen. Was Beratungslehrer Mustafa an seiner Schule erlebt hat, ist kein Einzelfall. Tatsächlich hat die syrische Regierung seit Beginn der Aufstände Spitzel an Schulen platziert. Diese fragen Schüler nach ihren politischen Ansichten aus, wollen wissen, worüber zu Hause gesprochen wird und welche Nachrichten die Familie schaut. Wer zugibt, mit der Opposition zu sympathisieren, muss mit Schlägen und Festnahme rechnen.

Schüler, Eltern und Lehrer berichteten außerdem, dass staatliche Sicherheitskräfte und Milizen immer wieder friedliche Schülerdemonstrationen angriffen. "Sie haben auf uns geschossen", erzählte die 14-jährige Somaja aus Damaskus der Menschenrechtsorganisation. "Ein Mädchen wurde an der Hand getroffen, sie haben sie auf den Boden geschmissen, festgenommen und in ein Auto gezerrt."

Provisorischen Schulen mangelt es an Büchern und Fachkräften

Darüber hinaus hat das syrische Militär mehrfach Schulen vom Boden und aus der Luft angegriffen, teilweise während sich Schüler in den Gebäuden aufhielten. Salma, eine Schülerin aus Daraa, berichtete Human Rights Watch, dass Regierungstruppen ihre Schule im vergangenen Jahr zweimal attackiert haben. "Die Panzer sind auf den Schulhof gefahren und haben mit Maschinengewehren auf das Gebäude gefeuert", erzählte sie, "wir haben Schutz unter unseren Tischen gesucht, bis der Beschuss aufgehört hat". Nach Aussagen der Schüler befanden sich zu dem Zeitpunkt keine Rebellen in der Schule.

In einigen Regionen haben inzwischen lokale Aktivisten improvisierte Schulen in Moscheen und Privathäusern eingerichtet. Doch trotz ihrer Bemühungen fehlt es überall an Schulheften, Büchern und qualifizierten Lehrern. Und so macht der Bericht vor allem eines deutlich: Wenn in Syrien nicht bald Frieden einkehrt, werden Tausende von Kindern Jahre der Bildung verlieren. Das Land droht eine ganze Generation zu verlieren.

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