Taliban-Angriff auf die Bundeswehr Blutiger Karfreitag in Camp Kunduz

Drei Tote, mehrere Verletzte, die Truppe in Aufruhr: Eine konzertierte Aktion der Taliban hat die deutschen Einsatzkräfte in Afghanistan hart getroffen. SPIEGEL-ONLINE-Reporter Hasnain Kazim erlebte einen der schlimmsten Tage der Bundeswehr in Camp Kunduz und schildert die dramatischen Stunden.
Deutscher Soldat in Afghanistan (Archivbild): Aus Hoffen wird schreckliche Gewissheit

Deutscher Soldat in Afghanistan (Archivbild): Aus Hoffen wird schreckliche Gewissheit

Foto: Anja Niedringhaus/ ASSOCIATED PRESS

Es ist kurz nach 13 Uhr in Kunduz, als ein Sprecher mit leichtem Zittern in der Stimme Alarm im deutschen Camp durchgibt. Ein deutscher Trupp sei etwa fünf Kilometer westlich des deutschen Lagers unter Beschuss geraten, nahe dem Örtchen Isa Khel, unweit des Kunduz-Flusses, heißt es. Die Soldaten hätten das per Funk an die taktische Operationszentrale durchgegeben, mindestens ein Kamerad sei schwer verletzt.

Damit ist es vorbei mit der Ruhe an diesem Freitag, dem einzigen Wochentag, an dem der Dienst etwas später beginnt - aus Rücksicht auf das islamische Freitagsgebet. Vorbei ist es mit der relativen Ruhe der vergangenen Wochen. Lange hatte es bei Patrouillen kaum Gefechte gegeben, keine Unfälle, keine größeren Vorfälle. Wenn man einmal von dem Kunduz-Untersuchungsausschuss im fernen Berlin absieht.

Ausgerechnet am Karfreitag schrillt nun wieder der Alarm. Grund zur Sorge? "Warten wir's ab, bis wir mehr über die Lage erfahren", sagt ein Soldat. "Hoffen wir, dass sich das als kleiner Vorfall herausstellt."

Seine Hoffnungen werden nicht erfüllt, es ist einer der schlimmsten Tage für die Bundeswehr in Kunduz seit Beginn des Einsatzes.

Quälende Minuten der Ungewissheit

Zwei amerikanische Hubschrauber vom Typ "Black Hawk" mit deutschen Rettungssanitätern an Bord heben kurz nach dem Alarm ab. Eine Maschine soll die Verletzten aufnehmen und ins Camp fliegen, der zweite Helikopter hat die Aufgabe, dem ersten Feuerschutz zu geben.

Es vergehen quälende Minuten der Ungewissheit. Per Funk erreichen das Camp Meldungen über heftige Gefechte. Ein Fahrzeug der Bundeswehr sei beim Rückzug über eine Mine gefahren. Lag sie schon vorher dort? Oder haben die Taliban den deutschen Konvoi in eine Falle gelockt und die Sprengladung erst später gelegt?

Am Flugplatz in Kunduz herrscht Hochbetrieb. Um 14.40 Uhr kehren die ersten beiden Helikopter zurück, Sanitäter stehen bereit und versorgen die Verletzten. Taliban haben auch die Maschinen beschossen. Es war schwierig, die Verwundeten zu retten. Inzwischen sind mehrere Hubschrauber im Einsatz, immer paarweise, es gibt Meldungen von mehreren Verletzten.

Dann die schreckliche Gewissheit: Ein Soldat ist getötet worden.

Die Attacke war offenbar von langer Hand geplant

Im Laufe der nächsten zwei Stunden spricht sich im Camp herum, dass zwei weitere Männer getötet worden sind. Die traurige Bilanz des schlimmsten Kriegstages seit Monaten: drei Bundeswehrangehörige, gefallen bei den Kämpfen. Fünf Soldaten wurden verletzt, davon vier schwer, heißt es vor Ort. Ein Sprecher des Einsatzführungskommandos in Potsdam spricht am Freitagabend von insgesamt acht Verletzten. Drei weitere Soldaten seien nicht verwundet worden, sondern hätten Knalltraumata oder posttraumatische Belastungsstörungen davon getragen, hieß es.

Bei dem Angriff der Taliban scheint es sich um eine von langer Hand geplante Attacke gehandelt zu haben. Der lokale Polizeichef der Region sagte SPIEGEL ONLINE, mehrere Trupps der Aufständischen hätten die Bundeswehr aus verschiedenen Richtungen gleichzeitig angegriffen. "Der Beschuss kam aus dem Norden und dem Süden", erklärt Ghulam Mahiudin am Nachmittag. Im Hintergrund des Telefonats waren immer wieder Kampfjets zu hören, die über der Region Chahar Darreh patrouillierten. Ob es zu Angriffen aus der Luft gekommen ist, war unklar. Mahiudin berichtete von mehreren lauten Explosionen, konnte den Grund aber nicht nennen.

Die Taliban nutzten die Attacke umgehend für ihre Propaganda. Per Telefon verbreitete der Sprecher der Aufständischen für die Nordregion unter Journalisten die Nachricht, Taliban-Kämpfer hätten bis zu zehn Bundeswehrsoldaten getötet und mehrere Panzer zerstört.

Wie bei vergangenen Angriffen meldete sich Sabihullah Mudschahed sehr frühzeitig, er scheint von den Kommandos zeitnah Informationen über deren Aktivitäten zu bekommen.

Die Stimmung im deutschen Lager ist gedrückt

Nach Informationen von SPIEGEL ONLINE gab es bei dem stundenlangen Gefecht auch auf der Taliban-Seite Verluste. Der Chef des afghanischen Geheimdienstes NDS, Rais Dawood, sagte am Nachmittag, er habe Informationen über mindestens fünf Taliban, die getötet worden seien. Unter den Toten soll sich auch der Kommandeur Nazeri Enayatullah sein, der bei der Bundeswehr als lokaler Anführer von mehreren Dutzend Kämpfern gilt.

Die Stimmung im deutschen Lager in Kunduz ist gedrückt, alle Termine und Konferenzen werden abgesagt. Im Gefechtsstand herrscht fieberhafte Aktivität. Gefallene sind auch im achten Jahr des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan eine Ausnahme, obwohl auch die Lage im Norden des Landes immer gefährlicher wird. Längst sind nicht mehr nur der Süden und der Osten die Gebiete, in denen erbittert gekämpft wird.

Die Taliban wehren sich mit aller Macht. In der Gegend um Kunduz werden noch etwa 80 Kämpfer vermutet, eine vergleichsweise kleine Gruppe, aber sie ist immer noch groß genug, um empfindlichen Schaden anzurichten.

Ab 17 Uhr donnern amerikanische F-16-Kampfjets im Tiefflug über Kunduz, der Höllenlärm soll den Taliban Angst einjagen. "Show of force" nennen sie das beim Militär, eine Drohgebärde und wichtige Stufe auf der Skala der Eskalation. Beim Einsatz Anfang September, als die zwei entführten Tanklastzüge bombardiert wurden, hat man genau diesen Schritt übersprungen, was man dem damaligen Kommandeur in Kunduz nun zum Vorwurf macht.

Bis in den Abend hinein fliegen die Jets über das Gebiet, doch die Taliban lassen sich davon offensichtlich nicht beeindrucken. Die Gefechte dauern zunächst an.

Die Nachricht von den gefallenen Soldaten kommt in Deutschland an

Gegen 18 Uhr bricht die Dämmerung herein. Noch immer sind die Kampfflugzeuge unterwegs und versuchen, die Rebellen auseinanderzutreiben. Die deutschen Soldaten hoffen, dass die Kämpfe bis zur vollständigen Dunkelheit beendet sind. In Kunduz sieht man bei Nacht die Hand vor Augen nicht, die Straßen und Pisten hier haben keine Beleuchtung. Wie soll man da einen Rebellen erkennen oder gar Minen entdecken?

Etwas später Erleichterung im Camp: Die Schießereien sind beendet, die Taliban offensichtlich vertrieben.

Längst ist die Nachricht von den toten Soldaten bis nach Deutschland gedrungen. Afghanische Journalisten haben Meldungen durchtelefoniert, manche berufen sich auf die falschen Angaben der Taliban.

In Masar-i-Scharif, dem Stützpunkt des von Deutschen geführten Regionalkommandos Nord, ist inzwischen Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) mit einem Tross von Reportern eingetroffen. Auch dort spricht jeder von der Tragödie, auch dort herrscht hektische Betriebsamkeit. Die Verwundeten von Kunduz sollen in das größere Sanitätszentrum in Masar-i-Scharif ausgeflogen werden. Es wird eine speziell ausgerüstete Transportmaschine vom Typ Transall organisiert, sie landet um 18.55 Uhr - trotz starker Bewölkung. Zwei Verletzte werden mit ihr nach Masar-i-Scharif gebracht, zwei weitere mit Transporthubschraubern. Einer der Verletzten kann gleich in Kunduz behandelt werden. Einige Verwundete sollen voraussichtlich an diesem Samstag nach Deutschland ausgeflogen werden.

Für drei Familien in Deutschland brachte der Karfreitag traurige Nachricht. Vom gewaltsamen Tod am Hindukusch.

Mitarbeit: Matthias Gebauer und Shoib Najafizada
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