Terror in Istanbul "Die Regierung kann uns nicht schützen"

Trauernde in Istanbul
Foto: Defne Karadeniz/ Getty Images

Trauernde in Istanbul
Foto: Defne Karadeniz/ Getty Images"Los, geht zur Seite, Tayyip kommt!", sagt Esra Mutlu voller Ironie. Die 43-Jährige zieht ihre zwei Freundinnen auf den Bordstein zu sich, als ein Konvoi schwarzer Autos durch die Auffahrt der Notaufnahme fährt. "Der Vater ist gekommen, um seinen Kindern über den Kopf zu streicheln", sagt sie zynisch. Sie meint den Präsidenten der Türkei, Recep Tayyip Erdogan. Dann setzt sie sich auf den Boden, zündet sich eine Zigarette an, Tränen steigen in ihre Augen.
Sie ist hier, um zu trauern. Drei Freunde ihrer 18 Jahre alten Tochter sind bei dem Terroranschlag am Dienstagabend am Istanbuler Atatürk-Flughafen ums Leben gekommen. Weil ihr Kind zu Hause unter Schock steht, ist die Mutter zum Istanbuler Krankenhaus im Stadtteil Bakirköy gekommen, das am nächsten zum Flughafen liegt und in das die meisten der rund 240 Verletzten gebracht wurden. "In diesem Land sterben Kinder, und niemanden interessiert das."
Hunderte Menschen stehen vor dem Krankenhaus. Die Sonne scheint ungeschützt auf den Asphalt. Sie warten hinter den Absperrungen, bangen und hoffen. Manche haben Tränen in den Augen, andere liegen sich weinend in den Armen, wieder andere schauen einfach stumm auf den Eingang der Notaufnahme.
Neben der Drehtür leuchtet ein Schild, "Gute Besserung" ist hier zu lesen, nur wenige Meter neben der Notaufnahme befindet sich der Eingang zu der Psychiatrie. Damit es zu keinen Ausschreitungen kommt, wachen Dutzende Polizisten über die Wartenden. Denn schon öfter kam es nach solchen Katastrophen zu regierungskritischen Demonstrationen, solche Bilder wollen die Mächtigen in Ankara vermeiden.
Auch Gönenc steht vor dem Krankenhaus. Sein Bruder wurde am Dienstagabend verletzt, eine herumfliegende Glasscherbe hat ihn am Arm getroffen, er schwebe allerdings nicht in Lebensgefahr. "Jeder weiß doch, dass die Islamisten in Istanbul ihre Rückzugsorte haben", kritisiert der 18-Jährige, der seinen Nachnamen nicht nennen will. "Diese Regierung macht doch nichts für die Sicherheit ihrer Bürger, sondern will nur ihre eigene Macht festigen. Was mit uns passiert, ist denen doch egal."
Drei Selbstmordattentäter haben sich am Dienstagabend auf dem Istanbuler Flughafen in die Luft gesprengt und mindestens 41 Menschen in den Tod gerissen. Aufnahmen einer Überwachungskamera zeigen, wie sich die Explosion gegen 22 Uhr Ortszeit ereignete. Vor den Detonationen, so berichten Augenzeugen, seien Schüsse gefallen. Offenbar kamen die Attentäter mit dem Taxi und waren mit Sturmgewehren bewaffnet.
Vor dem Terminal wurde mittlerweile aufgeräumt. Auf Fernsehbildern ist zu sehen, wie rasch versucht wird, wieder Normalität herzustellen, zerbrochene Scheiben wurden wieder ausgetauscht, erste neue Betonplatten an den Decken befestigt. Der Flugverkehr wurde nach etwa fünf Stunden wieder freigegeben, die meisten Flieger starten nach Plan. Im Flughafen selbst wurden große türkische Flaggen aufgehängt, man will Geschlossenheit demonstrieren - aber auch Einschusslöcher verdecken.
Die Regierung will die Nachrichten über den Anschlag am liebsten verschwinden lassen. Wie üblich nach Terrorangriffen verhängte der Radio- und Fernsehrat RTÜK mittels Gerichtsbeschluss ein Verbot, Berichte über das Attentat zu verbreiten. Betroffen seien "jede Art von Nachricht, Interview und Bilder vom Anschlagsort in den Druck- und visuellen Medien, den sozialen Medien und Internetmedien", melden regierungskritische Zeitungen.
Dennoch berichten manche Medien und informieren ausführlich über den Anschlag. Facebook und Twitter sind wieder nur sehr schwer oder überhaupt nicht erreichbar - damit will Ankara vermeiden, dass sich in den sozialen Netzwerken Nutzer kritisch über die Geschehnisse austauschen. Regierungsfreundliche Medien hingegen berichten am Mittwoch lieber über das Ende der türkisch-russischen Eiszeit.
Die Türkei - immerhin Nato-Mitglied und EU-Beitrittskandidat - versucht, ihren Bürgern Sicherheit vorzugaukeln. Der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim schließt noch nachts am Flughafen ein Versagen der Sicherheitsbehörden aus, die Verantwortlichen will er schon gefunden haben: "Alles deutet darauf hin, dass dieser Anschlag vom 'Islamischen Staat' durchgeführt wurde." Doch bisher hat sich der IS zu keinem der Anschläge bekannt, die ihm in der Türkei zugeschrieben werden. Seit Monaten herrscht im Land eine Atmosphäre der Angst.
"Was macht es für einen Unterschied, wer für die Toten verantwortlich ist", sagt Ece Kapan. Die 24-Jährige kommt aus dem Krankenhaus, ihre Schwester war gerade dabei, Verwandte zu verabschieden, als die Detonationen sie verletzten. "Die Regierung kann uns nicht schützen, dass hat sie doch im letzten Jahr eindrucksvoll gezeigt", kritisiert sie.
Tatsächlich ist es dem türkischen Geheimdienst MIT, der in der Lage ist, Oppositionelle und kritische Journalisten sauber zu bewachen, nicht gelungen, die Serie an Terroranschlägen in der Türkei zu verhindern. Im Gegenteil: Die Frage war nur, wann und wo die nächste Bombe hochgehen würde. In der Metro, auf einer Fähre, in einem Kaufhaus - die Menschen bewegen sich mit klammen Gefühlen durch ihren Alltag. Denn "attraktive" Anschlagsziele für islamistische und kurdische Terroristen gibt es zuhauf im ganzen Land.
Vor dem Krankenhaus in Bakirköy wird still getrauert - noch. Wie lange diese Ruhe anhalten wird, ist ungewiss, denn der nächste Anschlag kommt gewiss.
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28. Juni 2016
Atatürk-Flughafen in Istanbul
Erst schießen sie, dann zünden sie Bomben: Drei Selbstmordattentäter töten am Istanbuler Atatürk-Flughafen 41 Menschen. Die Behörden sprechen zudem von mehr als 239 Verletzten. Die Türkei verdächtigt die Terrormiliz IS als Drahtzieher.
7. Juni 2016
Zentrum von Istanbul
Eine Bombe explodiert im Istanbuler Bezirk Vezneciler während der morgendlichen Rushhour nahe einer Bushaltestelle. Ziel des Anschlags ist ein Bus der Polizei. Elf Menschen, darunter sieben Polizisten und vier Zivilisten, sterben, 36 weitere erleiden Verletzungen. Die militanten Freiheitsfalken Kurdistans bekennen sich zur Tat.
10. Mai 2016
Diyarbakir im Südosten der Türkei
Im Zentrum der kurdisch geprägten Stadt Diyarbakir detoniert eine Autobombe. Drei Menschen sterben. 15 Polizisten werden verletzt. Der Sprengsatz explodiert im Bezirk Baglar, als ein Polizeibus vorbeifährt. In der Südosttürkei geht die türkische Armee gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK vor, deren Kämpfer sich in Städten verschanzt haben.
1. Mai 2016
Gaziantep, nahe der syrischen Grenze
Vor dem Polizeihauptquartier der südtürkischen Stadt Gaziantep gibt es eine schwere Bombendetonation. Zwei Polizisten sterben. Weitere 22 Menschen werden mit Verletzungen ins Krankenhaus gebracht. Zu dem Attentat bekennt sich zunächst niemand.
31. März 2016
Diyarbakir im Südosten der Türkei
Bei einem Bombenanschlag in Diyarbakir im kurdischen Südosten der Türkei werden nach Angaben der Sicherheitskräfte sieben Polizisten getötet. 27 weitere Menschen erleiden Verletzungen, darunter mehrere Zivilisten. Die Bombe sei explodiert, als ein Polizeibus in der Nähe des Busbahnhofs der Stadt vorüberfuhr. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu wird einen Tag später in der Stadt erwartet.
19. März 2016
Zentrum von Istanbul
In der beliebten Fußgängerzone Istiklal Caddesi im Zentrum der Millionenmetropole sprengt sich ein Selbstmordattentäter in die Luft. Er reißt fünf Menschen mit in den Tod, die Behörden melden zudem 36 Verletzte. Unter den Verwundeten sind mehrere Touristen, darunter israelische Staatsbürger. Verantwortlich für den Anschlag könnte die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS), die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK oder eine ihr nahestehende Gruppierung sein, heißt es in der türkischen Regierung.
13. März 2016
Zentrum von Ankara
Im Zentrum der türkischen Hauptstadt Ankara gibt es eine Explosion. Ein oder zwei Selbstmordattentäter sprengen sich in einem mit Sprengstoff beladenen Fahrzeug in der Nähe des zentralen Kizilay-Platzes an einem Busbahnhof in die Luft. 37 Menschen werden getötet, 125 Menschen erleiden Verletzungen. In Sicherheitskreisen heißt es, die PKK oder eine ihr verbundene Gruppierung sei für den Anschlag verantwortlich.
17. Februar 2016
Zentrum von Ankara
Eine Autobombe explodiert im Regierungsviertel Cankaya in Ankara. Sie detoniert am Abend im Berufsverkehr, als ein Konvoi von Armeebussen an der Ampel steht, auf dem Weg zum Militärhauptquartier. Mindestens 28 Menschen sterben, darunter auch Soldaten. 81 Menschen sind verletzt. Die kurdische Terrororganisation "Freiheitsfalken Kurdistans", kurz TAK, bekennt sich zu dem Attentat.
14. Januar 2016
Cinar im Südosten der Türkei
Die Täter zünden eine Autobombe und greifen die Polizeistation von Cinar mit Schusswaffen und einem Raketenwerfer an. Ein Polizist und fünf Zivilisten kommen ums Leben. Die Hauptstadtmedien machen die verbotene Kurdische Arbeiterpartei PKK für das Attentat verantwortlich.
12. Januar 2016
Altstadt von Istanbul nahe der Blauen Moschee
Ein junger Mann sprengt sich inmitten einer Touristengruppe in die Luft.
Zwölf deutsche Touristen werden getötet, weitere werden verletzt. Der Täter wurde identifiziert und dem "Islamischen Staat" (IS) zugeordnet. Der IS hat sich jedoch zu diesem Anschlag nicht bekannt.
Verzweifelte am Atatürk-Flughafen in Istanbul. Am Dienstagabend schossen dort drei Attentäter um sich und sprengten sich anschließend in die Luft.
Mindestens 36 Menschen kamen bei dem Anschlag ums Leben, Dutzende wurden verletzt.
Augenzeugen berichteten CNN-Turk zufolge, dass heftige Explosionen das Ankunftsterminal für internationale Flüge erschüttert hätten.
Die Attentäter sollen mit dem Taxi zum Flughafen gekommen sein. Die türkische Regierung vermutet den sogenannten "Islamischen Staat" hinter der Tat.
Ein Angehöriger eines Opfers vor einem Krankenhaus in Istanbul.
Andere hatten mehr Glück: Diese Menschen können den Flughafen unverletzt verlassen.
Gleichzeitig patrouillieren Sicherheitskräfte rund um den Flughafen.
Die türkische Polizei sperrte zunächst eine Straße ab.
Schon weit vor dem Flughafen leiten Sicherheitskräfte den Verkehr um. Am Mittwochmorgen war der Flugverkehr am Atatürk-Flughafen wieder aufgenommen worden.
Archivbild: Der Atatürk-Flughafen fertigt pro Jahr mehr als 60 Millionen Passagiere ab. Er gilt als das Tor zur Türkei.
Wartende Menschen vor dem Atatürk Airport. Die Türkei ist in jüngster Zeit immer wieder von Terrorattacken heimgesucht worden.
Abtransport von Verletzten: Vor dem Flughafen-Gebäude sind Dutzende Krankenwagen zu sehen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach den Opfern ihre Anteilnahme aus. Sie sei erschüttert über "diese neuen und hinterhältigen Akte des Terrorismus", sagte sie am Rande des EU-Gipfels in Brüssel.
Der Rote Halbmond versorgt Verletzte. Hinweise, dass Deutsche unter den Opfern des Attentats seien, gebe es bisher nicht.