Islamisten-Hochburg Sicherheitsrisiko Belgien
Der Terrorangriff sei eine Folge der Öffnung der Grenzen auf dem europäischen Kontinent, sagte Belgiens Premierminister Charles Michel. Die Polizeibehörden der EU-Staaten tauschten zu wenige Informationen aus. Auch das Schengenabkommen, das die Reisefreiheit innerhalb der EU garantiert, stellte Michel infrage. "Wir sind nun mit einer neuen Bedrohungslage in Europa konfrontiert."
Diese Worte stammen nicht etwa vom Wochenende, nachdem islamistische Angreifer in Paris 132 Menschen massakrierten - sondern vom Januar, als Islamisten die Redaktion des Pariser Satiremagazins "Charlie Hebdo" zusammenschossen. Damals führten die Spuren der Attentäter auch nach Belgien - wieder einmal. 13 Dschihadisten wurden festgenommen, zwei starben bei einer Schießerei mit der Polizei.
Jetzt steht Belgien erneut im Zentrum der Ermittlungen. Der mutmaßliche Drahtzieher hinter den Anschlägen in Paris kam aus dem Brüsseler Stadtteil Molenbeek, mindestens ein weiterer Attentäter hat hier gelebt. Bei Razzien am Wochenende sind mehrere Verdächtige festgenommen worden.
Insbesondere der Großraum Brüssel gilt schon lange als Hochburg von Radikalen: In Problembezirken wie Molenbeek und Anderlecht gibt es abgeschottete Gemeinschaften von Einwanderern, in denen Radikale leicht untertauchen können. Ist Belgien das Terror-Zentrum Europas und damit ein Sicherheitsrisiko für den gesamten Kontinent?
Sechs Polizeibehörden arbeiten für 19 Bürgermeister
Er sei "überhaupt nicht überrascht", dass mehrere Verdächtige in Molenbeek festgenommen wurden, sagt etwa der belgische Abgeordnete Hans Bonte. Er sieht für die Entwicklung des Stadtteils vor allem zwei Gründe: die Kleinstaaterei in Belgiens Polizeiwesen und einen Mangel an Überwachung und sozialer Kontrolle von radikalisierten Muslimen.

In der 1,2-Millionen-Stadt Brüssel zum Beispiel gibt es nicht eine, sondern sechs Polizeibehörden. Sie unterstehen nicht weniger als 19 Bürgermeistern, die mitunter politische Konkurrenten sind. "Es ist unglaublich, dass es so etwas in der Hauptstadt Europas gibt", sagt Bonte.
Über allem schwebt der nach wie vor ungelöste Konflikt zwischen den beiden größten Bevölkerungsgruppen, den Flamen und Wallonen. Seit rund 40 Jahren versucht die belgische Regierung, ihn durch eine Dezentralisierung des Staats zu entschärfen. Zwar forderte Innenminister Jan Jambon, ein flämischer Rechtsausleger, nach den Anschlägen von Paris die Zusammenlegung aller sechs Polizeibehörden des Großraums Brüssel. Doch das dürfte kaum passieren. "Das ist eine flämische Fantasie", spottet Ahmed El Khannouss, Vizebürgermeister von Molenbeek. Frankophone Kommunen wollten frankophone Polizisten. Das entspreche dem Prinzip der traditionellen kommunalen Autonomie.
Zudem gelten die belgischen Sicherheitsbehörden vor allem in wenig wohlhabenden Gegenden wie Molenbeek als schwach ausgestattet. "Mein Eindruck ist, dass sie sich noch stärker als wir mit veralteter Technik und wenig effizienten Dienstwegen herumschlagen müssen", sagt ein Staatsschützer aus Deutschland. "Außerdem sind die Kollegen dort immer knapp bei Kasse." Observationen, Telefonüberwachungen, der Einsatz von Spitzeln kosteten aber viel Personal und Geld, so der Beamte.
Khannouss, ein Kenner der Islamisten-Szene Molenbeeks, sieht in der Polizeiarbeit ohnehin nicht die Lösung für das Problem der Radikalisierung. "Wir brauchen mehr Geheimdienstler und nicht mehr Polizisten", sagt er. Man müsse genauer wissen, wer sich radikalisiere, um frühzeitig eingreifen zu können.
Der Parlamentarier Bonte, zugleich Bürgermeister der Kleinstadt Vilvoorde vor den Toren Brüssels, betont die Bedeutung von Sozialarbeit: "Ich nehme mir viel Zeit für jeden einzelnen Fall", sagt der Sozialdemokrat. Für jeden radikalisierten jungen Mann gelte es, eine "maßgeschneiderte Lösung" zu finden. "Und das geschieht im Großraum Brüssel einfach nicht."
Die Folge: Zahlreiche Muslime, die sich radikalisieren oder militärisch ausgebildet und traumatisiert aus Syrien heimkehren, würden keinerlei Kontrolle unterliegen. Dieses Problem ist in Belgien größer als irgendwo sonst in Europa. Aus keinem anderen Land des Kontinents sind im Verhältnis zur Einwohnerzahl so viele Dschihadisten nach Syrien gezogen. Nach Schätzungen der Behörden kamen dort bislang etwa 500 Terror-Touristen auf elf Millionen Einwohner. Deutschland verzeichnet etwa 800 Syrien-Reisende bei 81 Millionen Bürgern. Und selbst den wesentlich größeren Sicherheitsapparat der Bundesrepublik bringt die Dimension der islamistischen Terrorgefahr allmählich an die Grenze der Belastbarkeit - und darüber hinaus.
Belgiens Problem ist Europas Problem
An diesem Punkt wird das belgische zum europäischen Problem. "Der Informationsaustausch funktioniert, aber er ist langsam und mühselig", sagt ein deutscher Beamter. Gerade in akuten Krisensituationen seien die Meldewege frustrierend kompliziert. Gemeinsame Datenbanken nutzen die europäischen Polizeibehörden nicht. Die Informationen müssen also per Fax oder E-Mail von Land zu Land geschickt und dort dann in das nationale System eingepflegt werden.
Dennoch setzt die Politik weiter vor allem auf Polizeiarbeit, um das Islamismus-Problem endlich in den Griff zu bekommen. "Ich stelle fest, dass es fast immer eine Verbindung nach Molenbeek gibt", sagte Premier Michel am Sonntag. "Neben Prävention sollten wir uns mehr auf Repression konzentrieren."
Doch es gibt auch diejenigen, die langfristige Überzeugungsarbeit fordern. "Die Menschen, die um sich schießen und sich selbst in die Luft jagen, kommen nicht aus dem Nichts", schrieb der angesehene belgische Soziologe Felice Dassetto nach den Pariser Anschlägen in seinem Blog. "Sie sind die Kinder und die Enkel von 50 Jahren radikaler Ideologie." Es werde mühselig, Muslime davon zu überzeugen, dass die Kultur des Dschihad den Islam in sein heutiges moralisches und intellektuelles Desaster geführt hätte. "Aber es ist nie zu spät für einen Anfang."
Zusammengefasst: Belgien gilt als Hochburg von Islamisten - wegen seiner zentralen Lage in Europa, aber auch wegen seines schwachen Sicherheitsapparats. Allerdings steht das Land damit nicht allein: Auf EU-Ebene zeigen sich ähnliche Schwierigkeiten.