Terrorismus Al-Qaida reloaded
Berlin - Die Nachrichten sind alarmierend: US-amerikanische und französische Geheimdienste sind überzeugt, dass das Terrornetzwerk al-Qaida sich reorganisiert. Sogar neue Ausbildungscamps soll es geben: In Afghanistan, aber vor allem in den schwer zugänglichen Stammesgebieten Nord-Pakistans. Eine neue Generation von Kadern sei nachgewachsen, heißt es - und einige werden verdächtigt, Anschläge im Westen zu planen.
Fünfeinhalb Jahre sind seit dem 11. September 2001 und dem Beginn des Krieges gegen das Taliban-Regime vergangen. Die physische Präsenz von Osama Bin Ladens Netzwerk war damals weitgehend zerstört worden. Die Terrorcamps, die schätzungsweise 20.000 Absolventen durchliefen, lagen schnell in Trümmern. Zwei Drittel der Qaida-Führung seien ausgeschaltet, jubilierte das Weiße Haus vor zwei Jahren. "Wir gewinnen", behauptete US-Präsident George W. Bush noch Anfang dieses Jahres, "al-Qaida ist auf der Flucht".
Auf der Flucht? Natürlich kann kein Zweifel daran bestehen, dass das Netzwerk nicht einmal annähernd über die Kapazitäten verfügt, mit denen es 9/11 organisierte. Aber die Versuche, sich neu zu organisieren, sind unübersehbar. Die neuen Camps sind ein Indiz. Zwischen 10 und 300 Dschihadisten fassen sie, berichtet "Time". "Wir wissen, dass es sie gibt, aber es ist wie eine Nadel im Heuhafen zu suchen", zitiert das Magazin einen US-Militär in Afghanistan. Das Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan, erklärte jüngst Generalleutnant Michael D. Maples vom US-Militärgeheimdienst DIA, sei "ein Zufluchtsort für al-Qaida". Ähnlich sieht es der Bundesnachrichtendienst (BND): Er nennt die Region ein "Aufmarschgebiet der neuen al-Qaida". Erst kürzlich mussten sich die deutschen Behörden um einen Deutschen sorgen, der nach Waziristan wollte.
Die CIA und Vizepräsident Dick Cheney haben ihre Sorge der pakistanischen Regierung von Präsident Pervez Musharraf bereits deutlich zur Kenntnis gebracht. Sie brachten markierte Karten mit. Auf den ersten Blick ist auf den schwarz-weißen Bildern nicht viel zu sehen. Doch es sind kleine Gehöft-ähnliche Strukturen, um die es ging: Meist nicht mehr als zwei bis drei Häuser, umgeben von hohen Mauern. Hier vermuten die US-Geheimdienstler die neuen Lager der Qaida.
Die sogenannten "Tribal Areas", in denen sie liegen, entziehen sich Islamabads Kontrolle von jeher. Stammesfürsten agieren hier nach Gutdünken und bieten al-Qaida und den Taliban Unterschlupf. Innerhalb des US-Militärs wird bereits über Luftschläge auf pakistanischem Gebiet ohne Deckung durch Musharraf diskutiert, noch aber haben jene die Oberhand, die den Militärmachthaber nicht weiter unterminieren wollen. "Sie könnten aber mehr machen", sagte der neue Direktor für die US-Geheimdienste, Mike McConnell, im Februar unverblümt mit Blick auf die pakistanischen Bündnispartner.
Al-Qaida ist widerstandsfähig
Al-Qaida hat sich in den vergangenen Jahren als ausgesprochen widerstandsfähig erwiesen. Auf den Afghanistankrieg reagierte das Netzwerk mit zwei Entscheidungen: Die Veteranen, so ordnete es Bin Laden an, sollten in ihre Heimatländer zurückkehren und das Werk dort fortführen. "Al-Qaida kommt nach Haus", tauften Terrorexperten das Phänomen - denn plötzlich war das Netzwerk überall präsent, wie Anschläge von Bali bis Madrid und von Riad bis London zeigten.
Die zweite Reaktion: Eine Öffnung gegenüber dem sympathisierenden Umfeld. Jeder Anhänger durfte und sollte fortan im Namen des Netzwerks zur Tat schreiten, teilten die Kader mit. Sie lieferten die Ideologie und das Know-how gleich mit.
Die westliche Welt nahm beides mit Schrecken zur Kenntnis, war sich aber über eines einig: dass zumindest die ehemalige Zentrale al-Qaidas ausgeschaltet sei.
Doch offenbar ist al-Qaida in der Lage gewesen, Mittel und Wege zu finden, sich auch hier zu erneuern. Eine ganze Reihe von Qaida-Kadern sind in die erste Reihe aufgerückt, warnen Geheimdienste. Und Aiman al-Sawahiri, der Stellvertreter Bin Ladens, könnte mehr Fäden in der Hand halten als bisher vermutet. Nach Erkenntnissen von CIA-Agenten in Pakistan kann der Ägypter innerhalb von 24 Stunden auf Anfragen anderer Kämpfer antworten. "Die Zeit der rigorosen Vorsicht scheint vorbei, Männer wie al-Sawahiri werden selbstsicherer", sagte ein westlicher Geheimdienstler kürzlich in Islamabad. In einem Fall fingen die Dienste sogar Anweisungen ab, wie mit einem Gefangenen umzugehen sei. "Die Befehlskette ist wieder geschlossen", zitiert die "New York Times" einen US-Beamten.
Es waren die Ermittlungen im Anschluss an Terroranschläge im Westen, die die Nachrichtendienste zu der Überzeugung brachten, dass al-Qaida doch mehr organisatorische Strukturen haben muss, als man ihr zugestand. Im vergangenen Sommer planten Islamisten, von London aus mehrere Passagierflugzeuge zu sprengen. Der Plan konnte vereitelt werden - doch die Spuren führten erstmals seit langer Zeit wieder bis zu einem bekannten Qaida-Kader. Der Ägypter Abu Ubaida al-Masri, so die "NYT", wird als Drahtzieher betrachtet. Er gilt als möglicher Nachfolger von Hamsa Rabia, dem 2005 getöteten Operationschef al-Qaidas, der wiederum bereits der vierte Nachfolger des legendären Chalid Scheich Mohammed war.
Austausch mit dem Irak
Auch andere bekannte Qaida-Kader tauchen verstärkt wieder auf: Sie agieren als Liaison-Kader in Iran, reisen häufig zwischen Irak und Pakistan hin und her um Know-how auszutauschen oder übertreten regelmäßig die Grenze nach Afghanistan.
Eine Pakistanisierung der al-Qaida - und was das für Europa bedeutet
Niemand nimmt an, dass al-Qaida heute wieder so organisiert ist wie vor 9/11, als es Gehaltschecks, Memos von Bin Laden und geregelte Urlaubszeiten gab. Auch sind die neuen Camps wohl nicht mit den Terrorschulen von einst vergleichbar. Aber der Trend ist klar: Es gibt zu viele unkontrollierbare Gebiete, als dass man al-Qaida komplett aus der Region zwischen Pakistan und Afghanistan vertreiben könnte. Die Organisation hat dort nicht allzu viel zu fürchten - und der eine oder andere Kader arbeitet nach Überzeugung der Dienste bereits wieder an internationalen Anschlagsszenarien.
Der Berliner Terrorexperte Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) sieht ebenfalls einen "deutlichen Trend zur Reorganisation". Er gibt aber zu bedenken, dass nicht bei allen Personen, die genannt werden, klar ist, wie eng sie al-Qaida überhaupt verbunden sind.
Vor allem jedoch sieht er keine neue Qaida-Zentrale heranwachsen: "Wenn Reorganisation, dann unter anderen Vorzeichen", glaubt er. Die neuesten Entwicklungen lassen sich seiner Meinung nach am besten als ein Prozess der "Pakistanisierung al-Qaidas" darstellen. Steinberg verweist darauf, dass die Bedeutung pakistanischer militanter Gruppen in den letzten Jahren enorm gewachsen ist. So konnten beispielsweise die Anschläge in London vom 7. Juli als auch die verhinderten Anschläge vom 21. Juli 2005 nach Pakistan zurückverfolgt werden. "Es gibt eine pakistanische Terror-Infrastruktur und pakistanische Freiwillige - dass das von al-Qaida genutzt wird, ist das eigentlich Neue", meint Steinberg.
Die London-Connection scheint in der Tat zu einer entscheidenden Schiene des Terrors zu werden: Immer häufiger, berichtet die NYT, würden Briten in den pakistanischen Militärcamps aufgenommen. Anschläge gegen den Westen, gab Geheimdienstkoordinator McConnell kürzlich zu, würden vermutlich am ehesten von Pakistan aus geplant werden.
Frankreich sorgt sich vor Anschlägen bei der Wahl
Steinberg glaubt dennoch, dass die Geschichte vom Widererstarken der al-Qaida in Pakistan einen unpräzisen Fokus hat. Sein Argument ist allerdings nicht weniger beunruhigend.
Er verweist zum Beispiel darauf, dass sich die algerischen Dschihadisten kürzlich zu "Al-Qaida im islamischen Westen" umgetauft haben - ebenfalls ein Indiz, dass Bin Ladens Netzwerk nach wie vor handlungsfähig ist. Steinberg glaubt, dass Qaida-Anschläge, die in Nordafrika geplant werden, in Europa mindestens so wahrscheinlich sind wie solche, die von Pakistan ausgehen. Nach Berichten der panarabischen Zeitung "al-Hayat" treibt diese Sorge auch die französischen Dienste um: Sie sorgen sich davor, dass Dschihadisten aus Algerien oder Marokko die für April angesetzte Präsidentenwahl für einen spektakulären Anschlag nutzen könnten - nach dem Muster der Anschläge von Madrid 2004, die ebenfalls kurz vor einem Wahlgang stattfanden und, wie von Qaida-Strategen vorhergesagt, zu einem Regierungswechsel und dem Abzug Spaniens aus dem Irak führten. Frankreich ist, ähnlich wie Deutschland, in Afghanistan präsent.
Der US-amerikanische Terrorexperte Bruce Hoffman sagte angesichts der jetzt immer klarer hervortretenden Entwicklungen bereits vor einem halben Jahr im Interview mit SPIEGEL ONLINE: "Al-Qaida ist gefährlicher als vor dem 11. September."
Der Berliner Experte Steinberg plädiert für eine nüchternere Betrachtungsweise. Aber auch die kann nicht beruhigen. "Al-Qaida", sagt er, "hat bewiesen, dass sie sich nicht einfach ausschalten lässt. Das ist schon ein Triumph. Denn Terroristen müssen nur nicht verlieren, um zu gewinnen."