Terroristen in Nordafrika Al-Qaidas Wüstenkiller eröffnen neue Front gegen Europa

Westliche Geheimdienste schlagen Alarm: In der Wüste Westafrikas sammeln sich immer mehr Anhänger Osama Bin Ladens. Mit Geiselnahmen, Morden und Terror gegen die Bevölkerung schafft sich al-Qaida eine neue Basis - womöglich auch für Anschläge in Europa.
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Gefahrenpotential für Europa: Al-Qaidas Wüstenkiller

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Sergio Cicala, 65, und seine Frau Philomene Kaboré, 39, wurden auf der Wüstenpiste von Mauretanien nach Mali entführt, 20 Kilometer bevor sie die Grenze erreicht hatten. Das war am 18. Dezember, sechs Tage vor Weihnachten. Den verlassenen Wagen der Italiener fand eine Polizeistreife, mit Gepäck und Wertsachen, zerschossenen Reifen und Einschusslöchern in der Karosserie. Die Kidnapper, das war für die Polizisten keine Frage, gehörten zu "al-Qaida im Maghreb".

al-Qaida

Drei Wochen zuvor, am 25. November, hatten bewaffnete Männer den französischen Entwicklungshelfer Pierre Camatte, 61, aus einem Hotel im Städtchen Menaka, im Nordosten Malis, verschleppt. Die Täter kamen von , sagte die Polizei.

Vier Tage später, am 29. November, verschwanden drei spanische Entwicklungshelfer, die Lebensmittel und Medikamente in mauretanischen Dörfern verteilten. Auch hier sei al-Qaida aktiv geworden. Die Behörden gehen davon aus, dass alle oder die meisten Entführten in einem Camp im Norden Malis gefangen gehalten werden.

Schon seit Jahren machen bewaffnete Banden die Savannen- und Wüstenzonen von Algerien, Mali, Mauretanien und Niger unsicher: Ein "rechtsfreies Gebiet" beschreibt ein Diplomaten-Dossier das Territorium, "mit allen Arten illegalen Handels".

Lange Zeit sorgten die Entführungen nur in den Ländern der Opfer für Aufsehen. Aber jetzt rückt die öde Region ins Zentrum der Aufmerksamkeit europäischer und amerikanischer Sicherheitsdienste. Sie fürchten, dass sich die Kidnapper mit Terrorhintergrund nicht länger auf Touristen oder lokale Amtsträger beschränken, sondern sich neue Ziele suchen. "Was sich in Westafrika zusammenbraut", so ein EU-Sicherheitsexperte, könnte "schnell zu einer ernsten Bedrohung Europas" werden.

Al-Qaida versucht, "neue Gebiete zu erschließen"

Osama Bin Laden

Denn die früheren Menschenhändler und Drogendealer sehen sich heute als Kämpfer für Allah und . Und parallel zur ideologischen Radikalisierung gehen sie immer brutaler vor. Erschossene Touristen, geköpfte Soldaten, ein Bombenanschlag auf die israelische Botschaft in Mauretanien, ein Selbstmordattentat auf die französische Botschaft - die "Gotteskrieger" verbreiten ihre Botschaft mit Gewalt und Schrecken.

Der Anti-Terror-Koordinator der Europäischen Union, Gilles de Kerckhove, beschreibt in einem Bericht den globalen Zusammenhang: Das Terrornetz al-Qaida sei in Afghanistan und Pakistan durch die militärischen Aktionen der Nato und der pakistanischen Armee unter Druck geraten. Nun versuche die Bin-Laden-Gefolgschaft, "neue Gebiete zu erschließen, wo sie sich reorganisieren und neue Aktionen vorbereiten kann". Zielgebiete sei neben dem Jemen vor allem der Südrand der Sahara in Westafrika.

Gegen den "toxischen Cocktail", der dort gerade gemixt werde, reiche es nicht aus, den Regierungen Waffen, Jeeps und Geld zu geben, so de Kerckhove. Die EU müsse helfen, den jungen Menschen dort eine Zukunft zu geben. Nun soll die spanische Regierung, die am 1. Januar die Ratspräsidentschaft übernommen hat, binnen drei Monaten ein Anti-Terror- und Aufbauprogramm für die Sahel-Länder vorbereiten.

Für europäische Terror-Fahnder ist die geografische Nähe zu den Terroristen ein Alptraum. Wenn sich die Islamisten dort ein "zweites Afghanistan schaffen", so ein EU-Sicherheitsexperte, werde es "verdammt problematisch für uns". Denn "dieses Afghanistan läge direkt vor unserer Haustür".

In der Tat, ungehindert und unkontrolliert können die Jeeps und Lastwagen der Qaida-Kämpfer die größte Wüste der Erde durchqueren. Über Tunesien oder Libyen sind sie schnell am Mittelmeer. Und von dort ist es nur ein kleiner Bootstrip nach Spanien oder Italien und weiter nach Frankreich, Großbritannien oder Deutschland. Kontakte in diese Länder gebe es bereits, behaupten die Geheimdienstler. Die Mitglieder der Qaida-Truppe im Maghreb, von westlichen Sicherheitsdiensten "AQIM" abgekürzt, könnten dort bei Verwandten und Freunden unterkommen.

Die USA wurden schon nach ersten Hinweisen aktiv

Auch in Washington alarmiert der Gedanke an Qaida-kontrollierte Gebiete in Westafrika die Regierung von Barack Obama. Sicherheitsberater General James Jones trug seinem Dienstherrn den Ernst der Lage vor. Daniel Benjamin, Anti-Terror-Beauftragter des State Department, referierte vor einem Senatsausschuss: Die Sache sei "sehr ernst".

Anders als Europa sind die USA sehr schnell im potentiellen Krisengebiet aktiv geworden, wenn auch mit wenig Erfolg. Anfang 2007 versuchten sie, ein militärisches Regionalkommando in Westafrika anzusiedeln, scheiterten aber am Widerstand der betroffenen Staaten. Auch ein 500-Millionen-Dollar-Programm zur Ausbildung von Polizei und Militär in zehn Staaten Westafrikas kommt nicht richtig in Gang. Die Regierungen zögern, das Geld anzunehmen, weil für viele einheimische Muslime die Amerikaner als böse Kreuzzügler gelten, Bin Laden und seine Kämpfer dagegen immer noch als Helden. Zudem haben die Regierungen dort Sorge, zu viel Kooperation mit den USA könnte sie selbst ins Fadenkreuz der Terroristen bringen.

Die Europäer wenden sich ab, der Einfluss muslimischer Missionare wächst

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Die europäischen Staaten haben, mit Ausnahme von Frankreich, die Region, die zu den ärmsten der Welt gehört, weitgehend aus dem Blick verloren. Dabei mehren sich die Meldungen über vermutlich riesige Lagerstätten von Uran, Öl und Gas. Je deutlicher Europa sich abwandte, desto mehr wuchs der Einfluss muslimischer Missionare. Sie boten der vom Westen enttäuschten Jugend eine neue Zukunftsvision. Das Ergebnis ist mancherorts schon im Stadtbild sichtbar: Binnen zehn Jahren wuchs die Zahl der Moscheen in Mauretaniens Hauptstadt Nouakschott von 60 auf 900. Finanziert werden sie meist von Saudi-Arabien, bestückt mit Predigern aus den Hardliner-Koranschulen in Kuwait. Die traditionell liberalen Muslime der Region geraten so immer mehr in den Sog des islamischen Fundamentalismus.

Den radikalen religiösen Überbau aus Arabien nahmen auch jene Gruppen auf, die ihre Gewaltbereitschaft schon früher unter Beweis gestellt hatten, allen voran die "Salafistische Gruppe für Gebet und Kampf", (GSPC). Die war im algerischen Bürgerkrieg der neunziger Jahre entstanden, als eine der zahlreichen Widerstandsgruppen gegen Armee und Polizei.

Aiman al-Sawahiri

Der Bürgerkrieg flaute ab, die Staatsmacht eroberte verlorenes Terrain zurück - die Salafisten wichen nach Süden aus, in die endlosen Weiten der Sahara. Sie stahlen Autos im Niger, beraubten Touristen in Algerien und siedelten in Mali. Dort bildeten sie junge Dschihad-Krieger aus, als Nachschub für den Irak-Krieg. So kamen die Gruppen in Kontakt mit dem Qaida-Netzwerk. Ende 2006 schlossen GSPC-Führer mit dem Bin-Laden-Stellvertreter einen Pakt. Die GSPC nannte sich fortan "al-Qaida im Islamischen Maghreb" und Sawahiri schwärmte, der neue Ableger werde "ein Knochen in den Kehlen der amerikanischen und französischen Kreuzritter" sein.

Zwei berüchtigte Wüstenkiller mit Qaida-Etikett

Unter der Oberaufsicht von "Emir" Abd al-Malik Drukdal kämpfen etliche, separat operierende Gruppen. Eine der besonders aktiven, im Norden Malis, steht unter dem Kommando von Belmokhter Mokhtar, 37, eine andere wird von Abu Zaid, 45, angeführt - beide sind berüchtigte Wüstenkiller.

Damit habe der Terror in der Region "eine neue Dimension erreicht", sagt der Chef des deutschen Bundesnachrichtendienstes, Ernst Uhrlau. Die AQIM habe einen hohen Organisationsgrad, unterhalte eigene Ausbildungslager und hätte sich "hohe Attraktivität für junge Dschihadisten" erarbeitet. Sie könne, so Uhrlau, "zu einer ernsten Bedrohung für Europa" werden.

Zunächst klang das übertrieben. Mokhtars und Zaids Mannschaften, insgesamt kaum mehr als 400, überfielen eine Bank - erfolglos, die Kasse war leer - und entführten - erfolgreich - Menschen, die sie gegen Lösegeld wieder freiließen. Mokhtar hatte schon 2003 32 überwiegend deutsche, Touristen entführt und durch die algerische Wüste bis nach Mali verschleppt. Eine Geisel starb an Erschöpfung, die anderen kamen nach vielen Wochen frei. Etwa fünf Millionen Euro Lösegeld soll Mokhtar damals kassiert haben. Dafür konnte er viele neue Waffen kaufen.

Die Geldquellen der Terroristen: Entführungen und Drogenschmuggel

Ab 2007 gerieten die Aktionen der Ex-Salafisten immer blutiger. So wurden am 24. Dezember 2007 vier französische Touristen beim Mittagspicknick in der Wüste Mauretaniens erschossen. Wenig später, nach einem Gefecht mit mauretanischen Soldaten, nahm eine AQIM-Kampftruppe zwölf Soldaten gefangen. Deren Körper fand man ein paar Tage darauf: am Rand einer Piste aufgereiht, bis auf einen waren alle geköpft und mit versteckten Sprengfallen bestückt worden.

Die Behörden vor Ort, die Regierungen und das Militär der Sahel-Länder sind gegen den kriminellen Terror machtlos. Allein der Norden Malis ist etwa doppelt so groß wie Deutschland, die Grenze zu Algerien 1200 Kilometer lang, die zu Mauretanien 2000 Kilometer und die zum östlichen Nachbarn Niger 900 Kilometer. Zur Grenzsicherung stehen gerade einmal 8000 Soldaten zur Verfügung, die schlecht und unregelmäßig bezahlt werden. Sie drangsalieren die Bevölkerung in den Dörfern und fürchten sich vor Tuareg-Rebellen genauso wie vor den AQIM-Fanatikern.

Der Mord an der englischen Geisel Edwin Dyer

So wächst das Bedrohungspotential. Selbst Skeptiker, die mahnende Berichte von Geheimdiensten zunächst für überzogen hielten, werden inzwischen nervös. Reinhold Plate, der Vertreter der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Malis Hauptstadt Bamako, sieht inzwischen "eine ganz andere, sehr brisante Qualität" bei den Terrorgruppen.

Wie menschenverachtend die AQIM-Gangster vorgehen, zeigt ein Überfall auf europäische Touristen im Januar vorigen Jahres. Auf dem Rückweg von einem Tuareg-Musikfestival wurde die Reisegruppe angegriffen, ein Fahrer und vier Reisende verschleppt. Die 77-jährige deutsche Lehrerin Marianne Petzold und zwei Schweizer Geiseln kamen vier Monate später wieder frei - für zwei Millionen Euro Lösegeld, sagen Insider. Offiziell wird das dementiert.

Die vierte Geisel, den Briten Edwin Dyer, wollten die Kidnapper nur im Tausch gegen den in England inhaftierten Jordanier Abu Katada freilassen. London weigerte sich. Im arabischen Fernsehsender al-Dschasira verkündete daraufhin ein Sprecher von "al-Qaida im Islamischen Maghreb" im schwülstigen Terroristenstil: "Am 31.5. 2009, um 7.30 Uhr Ortszeit, wurde die Geisel Edwin Dyer getötet, damit er und die britische Regierung ein wenig von dem erleben, was unschuldige Muslime täglich durch die Hände einer Koalition von Juden und Kreuzrittern erleiden müssen."

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