Theresa May nach Brexit-Einigung Noch mal davongekommen
Am Ende dieses Abends soll alles ganz schnell gehen. Keine Pressekonferenz, nur ein Statement, heißt es vonseiten der britischen Regierung in London. Da sitzen die Premierministerin und die Mitglieder ihres Kabinetts noch in der Downing Street zusammen.
Es geht um etwas Historisches in diesem ohnehin historischen Brexit-Prozess: Theresa May hat den Deal mit Brüssel vorgelegt. Knapp 585 Seiten über die Frage, wie sich Großbritannien und die Europäische Union trennen: radikal oder einvernehmlich. Das Kabinett muss jetzt entscheiden, am Ende stimmen die Minister mehrheitlich zu. Und dann? Nur ein paar Worte.
Die Oppositionsparteien hatten die Premierministerin kurzfristig aufgefordert, zuerst am Donnerstag im Unterhaus ihren Plan vor den Abgeordneten zu präsentieren, und nirgendwo anders. Als May ins Blitzlichtgewitter tritt, gibt sie sich staatstragend. Das Abkommen sei das beste, das verhandelt werden konnte, sagt sie. Es sei "im nationalen Interesse".
Man kann davon ausgehen, dass sie gerne schon mehr gesagt hätte über ihre Version des Tages - bevor es jemand anderes tut, der ihr weniger wohlgesonnen ist.

Brexit: Theresa Mays Problem-Minister
Denn dieser Tag hätte durchaus das Ende von Mays Amtszeit bedeuten können - und niemand kann wirklich sagen, ob es nicht doch noch darauf hinausläuft. Zu viele Widersacher hat die Premierministerin, auch in den eigenen Reihen.
Bereits am Dienstag hatte May versucht, die Skeptiker in der Regierung auf Linie zu bringen - vor allem die Brexit-Hardliner, denen die Premierministerin in den Verhandlungen zu nachgiebig ist. May beorderte Kabinettsmitglieder zunächst einzeln in die Downing Street. Es ging jetzt auch darum, eine Revolte abzuwenden.
Der ganze Streit hatte sich in den vergangenen Monaten fast nur noch um einen Punkt gedreht, bei dem die Verhandlungen einfach nicht vorankamen: die künftige EU-Außengrenze zwischen Nordirland und Irland.
Zäune und Kontrolleure auf der Insel - das will mit Blick auf deren Geschichte niemand mehr. Nur: Die Briten wollen zugleich raus aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion, um unabhängig zu sein von EU-Recht und um eigene internationale Freihandelsabkommen schmieden zu können.
Ziel ist es, auch mit der EU einen solchen Handelsdeal abzuschließen, der Zollkontrollen an der inneririschen Grenze ohnehin überflüssig macht. Allerdings vermag niemand abzusehen, ob das vor Ablauf der vereinbarten Übergangsphase im Dezember 2020 gelingt. Und dann?
Mays Plan, ein klassischer Kompromiss
Die EU, das ist lange bekannt, drängt auf einen sogenannten Backstop, eine Notlösung, die im Zweifel eine harte Grenze auf der irischen Insel verhindert. Wie diese aussehen soll, darauf haben sich die Unterhändler nun verständigt. (Lesen Sie mehr dazu in der Analyse aus Brüssel.)
Was May vorlegt, ist ein klassischer Kompromiss. Gibt es keine rechtzeitige Einigung, kann die Übergangsphase verlängert werden - oder es greift eine Auffanglösung, nach der Großbritannien insgesamt mit der Zollunion verbunden bleibt, nicht nur Nordirland, wie von Brüssel zunächst angedacht. Kritiker in Großbritannien hatten befürchtet, andernfalls könne das Vereinigte Königreich gespalten werden.
Im Gegenzug hat die EU durchgesetzt, dass London aus einer solchen Vereinbarung nicht einseitig aussteigen kann. Und: Mit der Vereinbarung nimmt London auch hin, weiter an EU-Regeln gebunden zu bleiben, etwa bei Landwirtschaft und Umweltfragen.
Mays Minister nehmen sich am Mittwoch viel Zeit, jeder einzelne meldet sich zu Wort. Die Redebeiträge hätten ungewöhnlich lange gedauert, heißt es später. Es sei sogar geschrien worden. Mehrere Kabinettsmitglieder hätten letztlich gegen den Deal gestimmt. Die Regierung bleibt gespalten.
Video zur Debatte im Unterhaus: Theresa May verteidigt Brexit-Einigung
Auch über mögliche Rücktritte war in den Medien zuvor spekuliert worden. Nach der Sitzung gibt es heftige Gerüchte, Arbeitsministerin Esther McVey könnte hinschmeißen. Das totale Chaos aber scheint auszubleiben. Reicht das für May?
Klar ist: Die größten Herausforderungen stehen der Premierministerin noch bevor. Voraussichtlich am 25. November soll der Deal auf einem EU-Gipfel abgesegnet werden. Dann, vermutlich Mitte Dezember, muss das britische Unterhaus entscheiden. Ob May dort eine Mehrheit organisieren kann, ist völlig offen. 320 Stimmen benötigt sie. Gemeinsam mit dem Bündnispartner, der nationalkonservativen nordirischen DUP, kommen die Tories auf 328 Stimmen.
Doch Widerstand droht May von allen Seiten. Die konservativen Brexit-Ultras der European-Research-Group (ERG) hatten in den vergangenen Tagen wieder heftig gegen die Premierministerin geschossen, noch bevor die ersten Details des Deals bekanntgeworden sind. Für sie gleicht jede Akzeptanz von EU-Gesetzen einer Unterwerfung.
Darin dürften sie sich nun bestätigt fühlen. Ein Enddatum für den Backstop ist in dem Vertragstext nicht festgehalten. Schon wittern Brexiteers die Gefahr, Großbritannien könnte auf ewig an die Zollunion gebunden bleiben. Am Mittwoch kursierten dann Berichte, wonach die ERG jetzt ernstmachen wolle mit einem lange geplanten Misstrauensvotum gegen ihre Parteichefin.
Die DUP wiederum ist auch nach diesem Tag ihre Sorge vor einer Sonderlösung für Nordirland nicht völlig los. Erste Analysen legen nahe, dass unter Umständen doch noch spezielle Regeln für Belfast festgelegt werden könnten.
Und auch unter den Proeuropäern bei den Tories gibt es nach wie vor einige, die bei ihrer starren Haltung gegen den Brexit bleiben wollen. Am Mittwoch gibt es mehrere Gesprächsrunden der "Remainer", wie sie auf der Insel heißen. Mehrere von ihnen, berichtet der "Guardian" später, setzen weiter auf ein zweites Referendum, um den Ausstieg am Ende doch noch abzuwenden.
Setzen sie sich durch, könnten am Ende sämtliche Verhandlungen ohnehin hinfällig sein.