Tod von Scheich Tantawi Ende einer Ära der Milde?

Scheich Tantawi: "Unseren Glauben mit der Welt von heute in Einklang bringen"
Foto: epa Yusni/ dpaDie Nachricht vom plötzlichen Herztod des großen Islam-Gelehrten Mohammed Sajjid Tantawi war noch keine fünf Stunden alt, als bei vielen Ägyptern auf dem Handy-Bildschirm bereits zu lesen war: "Gott möge ihm seine Schwäche verzeihen und dem Islam wieder neue Kraft verleihen."
Die Autoren der despektierlichen Botschaft blieben anonym. Doch sie könnten gleich aus mehreren Islamzirkeln stammen, die den wissenschaftlich hochangesehenen Verfasser einer 7000 Seiten umfassenden Koran-Exegese ablehnten. Ihrer Meinung nach hatte Tantawi sich seit seiner Ernennung zum obersten Repräsentanten der weltweit wichtigsten islamischen Bildungsstätte allzu regierungstreu verhalten.
Die Handy-Botschaft war ein erster Hinweis darauf, dass der Tod Tantawis dem schwelenden Konflikt zwischen moderaten und kompromissloseren Schriftgelehrten neuen Auftrieb verleihen wird.
14 Jahre lang führte der 81-Jährige die Azhar-Universität, zuvor hatte er fast zehn Jahre lang als Obermufti Ägyptens gewirkt. Kaum jemand aus dem Kreise der sunnitischen Gelehrten war bekannter oder profilierter als er - und doch war Tantawis weiche Linie stets umstritten. Zu Lebzeiten blieb er dennoch quasi unantastbar. Nun aber ist eines bereits klar: Sein Nachfolger, der noch nicht nominiert ist, wird sich der Debatte in ganz anderer Weise stellen müssen. Welcher Kurs ist angesagt: Fortführung der Tantawi-Linie, der Konflikte stets zu deeskalieren versuchte - oder eine Hinwendung zu einer populäreren, aber dafür schärferen Gangart?
Die Kritik an Tantawi kam nicht von ungefähr. Die im Jahre 970 gegründete Azhar-Schule hat zwar keinerlei offizielle religiöse Autorität. Doch die hier erstellten Rechtsgutachten akzeptieren unzählige Muslime aus freien Stücken. Die Person des Großscheichs steht daher qua Amt unter verschärfter Beobachtung.
Von Mubarak ernannt - und deswegen kritisch beäugt
Seit dem Sturz der ägyptischen Monarchie im Sommer 1952 werden die Großimame der Azhar, auch Großscheichs genannt, nicht mehr von Schriftgelehrten demokratisch gewählt, sondern von Ägyptens Staatspräsident ernannt.
Daraus resultiert eine unverkennbare gegenseitige Nähe. Sie erklärt, wieso Azhar-Führer zu Zeiten von Präsident Gamal Abd al-Nasser zunächst dessen Konfrontationskurs gegen Israel absegneten, und später, unter seinem Nachfolger Anwar al-Sadat, den ägyptisch-israelischen Friedensvertrag. Damit freilich war ein Großteil der Gläubigen nicht einverstanden. Auch zahlreichen Azhar-Gelehrten war der friedliche Ausgleich mit Israel ein Dorn im Auge. Gleich zwei Klüfte waren entstanden, beide konnte Tantawi nie ganz schließen.
Zu seinen Kritikern zählten so keineswegs nur Wortführer der radikalen Muslimbruderschaft, sondern auch Tausende frommer Muslime, die der Meinung sind, allein eine "Rückkehr zur Religion" könne Ägyptens Dauerprobleme wie Massenarmut, Ungerechtigkeit und einen vermeintlichen Werteverlust infolge einer "Verwestlichung" lösen.
Deutliche Worte gegen die Beschneidung von Frauen
Tantawi stieß diese breite Allianz von Kritikern durch eine Reihe von Maßnahmen und Standpunkten vor den Kopf, die man ihm wahlweise als Abweichen vom wahren Glauben oder "Selbstaufgabe vor den Ungläubigen und Ketzern" ankreidete.
Dazu zählen etwa Aussagen wie die, dass eine Muslima ihren Schleier sehr wohl ablegen dürfe, wenn sie anderenfalls nicht die Schule besuchen könne - denn die sei dann das kleinere von zwei Übeln. Natürlich missfiel ihm auch die Vollverschleierung. "Das ist eine unislamische Tradition", geißelte der Islam-Scholar. "In Schulen und Universitäten darf es keine Vollverschleierung geben."
Er erklärte Abtreibung für akzeptabel, wenn die Schwangerschaft ihren Ursprung in einer Vergewaltigung habe.
Und er sprach sich gegen die Beschneidung von Frauen aus. Ein Frevel in Augen erzkonservativer ägyptischer Väter. Der menschenfreundliche Scheich brüstete sich sogar, seiner eigenen Tochter das "unmenschliche Verstümmeln" erspart zu haben.
"Den Islam vor Verfälschung bewahren"
Manche seiner Kollegen im einflussreichen "Obersten Rat der Gelehrten der Azhar" verweigerten ihm in der Folge Gehorsam. Statt offener Opposition betrieben sie verdeckte Propaganda oder widersprachen in Zeitungsinterviews immer öfter den milden Koranauslegungen ihres Vorgesetzten. Vollends erzürnt gaben sich tatendurstige Imame, als Tantawi die Selbstmordattentate palästinensischer Islamisten als "unvereinbar mit dem Koran und dem Beispiel des Propheten" brandmarkte.
Die Anfeindungen verstand der Scheich nicht: "Ich will den doch nur vor Verfälschung und daraus folgernden Unterstellungen bewahren", sagte er stets.
Tantawi war in Augen moderater Muslime "im Grunde ein islamischer Laizist", wie sich prominente Teilnehmer an einer der berühmten Freitagsfrühstücksrunden im Intellektuellentreff Café Riche mokierten. Unter tosendem Beifall.
Es stimmt. Azhar-Großscheich Tantawi glaubte an die Möglichkeit eines Miteinanders von Islam und Zivilgesellschaft. Extreme Islam-Interpretationen hatten da keinen Platz. "Wir bräuchten im Islam einen Martin Luther", gestand er SPIEGEL-Redakteuren in einem vertraulichen Gespräch. "Wir müssen Dinge in Frage stellen und versuchen, unseren Glauben mit der Welt von heute in Einklang zu bringen. Natürlich ohne den Glauben zu verändern."
Nachfolger noch nicht nominiert
Uneingeschränkte Anerkennung erhielt Tantawi, der sich schon 1944 einem angesehen religiösen Institut in Alexandria anschloss, nur für seine wissenschaftliche Arbeit. Das ließ ihn letztlich zu einer tragischen Figur werden.
Der Nachfolger Tantawis muss sowohl Tantawis Moderation wie auch die Kritik der Hardliner berücksichtigen. Gehandelt wird der Name des Scheichs Chalid al-Gindi, Azhar-Professor, Betreiber des einträglichen Fernsehsenders al-Azhar und Fürsprecher eines "Festhaltens am wahren Glauben".
Der zum Millionär gewordene Gelehrte ist kein eigentlicher Hardliner, hat sich aber einen Ton zugelegt, wie ihn die Konservativen und vom milden Islam Enttäuschten gerne hören. Jüngste Innovation des möglichen Nachfolgers: Das Fatwa-Telefon. Religiöse Beratung über Hörmuschel und Lautsprecher - für eine geringe Gebühr.
Ein zweiter Tantawi ist nicht in Sicht.