Todesschüsse auf Jugendlichen Griechische Städte am Rande des Ausnahmezustands
Athen - Die Bilder, die der Kameramann aus dem Hubschrauber des Athener Fernsehsenders Skai in die Sendezentrale funkt, erinnern an Aufnahmen aus einer Kriegszone. Dichte Rauchwolken steigen über der Leoforos Alexandras auf, der langen, sechsspurigen Allee, an der sich das Athener Polizeipräsidium befindet. Es scheint, als stehe der halbe Straßenzug in Flammen.

Heftige Krawalle in Athen: Straßenschlachten halten Griechenland in Atem
Foto: DPAEin Blick hinüber zum Stadtteil Exarchia. Auch hier steigt schwarzer Qualm auf. Flug über das Stadtzentrum: ausgebrannte, umgestürzte Autowracks säumen die Straßen. Viele Fassaden sind schwarz vom Ruß. Aber das ganze Ausmaß der Zerstörung zeigt sich erst am Boden, bei einem Gang durch die gespenstisch menschenleeren Straßen im Zentrum: überall verwüstete Geschäfte, ausgebrannte Bankfilialen und Supermärkte. Athen am zweiten Advent - eine Stadt im Ausnahmezustand.
Begonnen hatte es am Samstagabend. Um 21.10 Uhr fallen in Exarchia, an der Ecke Missolongi- und Tsavellas-Straße, mehrere Schüsse aus einem Polizeirevolver. Ein 15-jähriger Junge bricht zusammen. Im Evangelismos-Krankenhaus können die Ärzte in der Notaufnahme wenig später nur noch seinen Tod feststellen.
"Es ist wie im Krieg"
Die Nachricht verbreitet sich rasend schnell in der gut vernetzten Athener Autonomenszene. Schon gegen 22 Uhr fliegen im Stadtzentrum die ersten Steine und Brandflaschen. Vor allem Bankfilialen nehmen sich die Vermummten vor. In der Hermes-Straße, der beliebtesten Athener Shoppingmeile, brennen sie ein dreistöckiges Kaufhaus komplett ab. "Es ist wie im Krieg", berichtet eine verängstigte Anwohnerin telefonisch im Rundfunk. Auch Filialen der Bekleidungsfirmen Benetton und H&M müssen dran glauben. Die Imbissstuben und kleinen Tante-Emma-Läden im Stadtzentrum verschonen die Randalierer dagegen.
Es bleibt nicht bei den Ausschreitungen in Athen. Wie ein Flächenbrand greifen die Unruhen im Laufe des Abends auf weitere Städte über: auf Thessaloniki, Ioannina, Komotini und Alexandroupolis im Norden, auf Agrinio in Zentralgriechenland, die westgriechische Hafenstadt Patras, auf die Inseln Korfu, Lesbos und Kreta. Überall zersplittern Schaufensterscheiben, gehen Bankfilialen, Geschäfte und Streifenwagen in Flammen auf.
Am Sonntagvormittag rücken im Athener Stadtzentrum Radlader und Lastwagen an, um die Rest der Barrikaden, die ausgebrannten Zeitungskioske und Autowracks wegzuschaffen. Aber da brechen bereits neue Unruhen aus: Vermummte Autonome nutzen einen friedlichen Protestmarsch mehrerer tausend Menschen zum Polizeipräsidium an der Leoforos Alexandras, um weitere Verwüstungen anzurichten. Drei Autohäuser und zwei Supermärkte fackeln die Randalierer ab, zahllose Geschäfte werden demoliert und in Brand gesteckt. Auf Menschenleben nehmen die Autonomen keine Rücksicht mehr.
Die Feuerwehr muss mit Drehleitern mehrere Bewohner aus den oberen Stockwerken brennender Gebäude retten. Auch in Thessaloniki und in Patras flammen die Unruhen wieder auf. Beobachter sprechen von den schwersten Ausschreitungen seit 1983. Anlass war auch damals der Tod eines Demonstranten durch eine Polizeikugel. Auch er war 15 - wie das Opfer vom Samstag.
Schüsse auf YouTube-Video zu hören
Aber was ist wirklich passiert, am Samstagabend in Exarchia? Verwackelte Bilder, aufgenommen aus einem Fenster mit einem Handy und seit Sonntagnachmittag bei YouTube zu sehen , liefern keine schlüssige Antwort. Auf dem Amateurvideo ist zu sehen, wie sich nach den Schüssen zwei Gestalten in ruhigem Schritt vom Tatort entfernen. Nach Aussagen von Augenzeugen handelte es sich dabei um die beiden Polizisten, die keine Anstalten gemacht hätten, sich um das Opfer, das sterbend am Boden lag, zu kümmern. Die beiden beteiligten Polizisten sagen, sie seien in ihrem Streifenwagen von einer Gruppe Autonomer bedroht worden. Die etwa 30 jungen Männer hätten den Wagen mit Steinen und Stöcken angegriffen.
So etwas kann in Exarchia vorkommen. Hier ist die Polizei nicht gern gesehen. Das Künstlerviertel war schon während der griechischen Militärdiktatur (von 1967 bis 74) ein Zentrum des Widerstandes. Inzwischen ist der Stadtteil mit seinen Kneipen und Cafés eine Hochburg der Athener Autonomen, die sich selbst als "Anarchisten" bezeichnen. Eine politische Idee ist hinter den Zerstörungstrips, zu denen die Vermummten mit ihren Rucksäcken voller Steine und Molotowcocktails von hier aus alle paar Monate aufbrechen, nicht zu erkennen - außer dem blinden Hass auf Kapitalismus, Globalisierung, Banken und Großkonzerne.
Dass in Exarchia Streifenwagen mit Bierdosen beworfen und Polizisten als "Wichser" oder "Schwule" tituliert werden, ist nicht neu. Deswegen zieht kein Polizist die Dienstwaffe. Diesmal sei die Situation aber viel gefährlicher gewesen, sagen die beiden Beamten. Deshalb habe der eine erst eine Blendgranate geworfen, der andere dann zur Selbstverteidigung drei "Warnschüsse" abgegeben, zwei auf den Boden und einen in die Luft, wie der 37-jährige Polizist erklärt haben soll.
Augenzeugen sprechen von "kaltblütigem Mord"
Augenzeugen haben den Vorfall allerdings anders gesehen. Eine Gruppe Jugendlicher, die aus einer Bar gekommen sei, habe die Beamten beschimpft. Vielleicht sei auch eine Bierflasche geflogen. Die Polizisten seien zunächst weitergefahren, hätten dann aber geparkt und seien zu Fuß zurückgekommen, um die Jugendlichen festzunehmen. Dabei habe es weitere verbale Auseinandersetzungen gegeben. Und dann fielen die Schüsse - ob drei oder zwei, ist noch unklar. Der Polizist habe gezielt geschossen, berichtete ein Augenzeuge: "Es war kaltblütiger Mord." Das Opfer kam keineswegs aus einem sozialen Randmilieu. Der 15-Jährige war ein junger Mann aus gutem Hause, seine Eltern betreiben ein Juweliergeschäft in einer der teuersten Einkaufsstraßen Athens.
Noch am Sonntagmittag leitete die Athener Staatsanwaltschaft Ermittlungen wegen Mordverdachts und Beihilfe zum Mord gegen die beiden Beamten ein, die vorläufig festgenommen wurden. Innenminister Prokopis Pavlopoulos bot Ministerpräsident Kostas Karamanlis seinen Rücktritt an, der lehnte aber dankend ab. Jetzt arbeitet Pavlopoulos an Schadensbegrenzung. Der Minister spricht von einem "Einzelfall", der "keine Rückschlüsse auf die Polizei als Ganzes" zulasse. Der Todesschuss sei "außerhalb der Logik der Polizei und des Rechtsstaats. Pavlopoulos verspricht eine schnelle Aufklärung. "Die Wahrheit wird ans Licht kommen", sagt er, die Verantwortlichen müssten mit "exemplarischer Bestrafung" rechnen.
Welle der Gewalt - und eine ratlose Regierung
Doch all das besänftigt die Wut der Autonomen nicht, wie die neuerlichen Verwüstungen am Sonntagnachmittag zeigten. Die Polizei blieb auf Distanz, "Defensive" lautet das von Innenminister ausgegebene Motto. Sie feuerten zwar Tränengaskartuschen auf die Autonomen ab, hielten aber Sicherheitsabstand und mieden den direkten Kontakt. Nichts wäre in diesem aufgeheizten Klima verheerender als ein weiteres Opfer.
Staatspräsident Karolos Papoulias kondolierte die Familie des getöteten Jungen, sprach davon, auch der Rechtsstaat sei verletzt worden - und übte damit indirekt Kritik an der Polizei. Auch Regierungschef Karamanlis schickte ein Beileidsschreiben an die Eltern des Jungen. Für den konservativen Premier könnte die Welle der Gewalt, die jetzt über das Land hinwegrollt, fatale politische Folgen haben.
Ohnehin geriet Karamanlis in den vergangenen Monaten immer tiefer in den Strudel einer ganzen Serie von Skandalen. Auch bei der Bewältigung der Finanzkrise macht Karamanlis nach dem Urteil vieler Griechen keine gute Figur, wie Meinungsumfragen zeigen. Im Parlament verfügt die konservative Regierung nur noch über eine hauchdünne Mehrheit von 151 der 300 Mandate.
Der Premier könnte nach Einschätzung von Beobachtern ohnehin gezwungen sein, im kommenden Jahr vorgezogene Parlamentswahlen herbeizuführen. Dass er die gewinnen kann, gilt aber als unwahrscheinlich: Bei der Sonntagsfrage liegen die oppositionellen Sozialisten seit Monaten mit wachsendem Abstand vor den Konservativen.