Transkontinentaler Vergleich Warum unser Bild von den USA falsch ist
Der US-Sozialstaat wird im Vergleich zu Europa oft als miserabel und unterentwickelt beschrieben. Und das Bild stimmt - wenn man Schweden oder Deutschland als Maßstab nimmt. Doch wenn man sich die Sozialpolitik in Europa insgesamt anschaut, sieht die Sache schon ganz anders aus.
Es ist wahr, die Vereinigten Staaten haben bis heute kein umfassendes, alle Bürger versorgendes Gesundheitssystem. Der Dokumentarfilm "Sicko", den Michael Moore 2006 in die Kinos brachte, wird dafür sorgen, dass diese Umstand so schnell nicht in Vergessenheit gerät. Ohne Zweifel ist es unfair und brutal, dass viele Menschen keine Versicherung haben.
Sicherlich ist es das dringendste Problem der US-Innenpolitik, eine umfassende Krankenversicherung zu schaffen und zu garantieren. Die schlimmste Schande des US-Gesundheitssystems ist übrigens die Kindersterblichkeit, die nirgendwo in Europa so hoch ist wie in den Vereinigten Staaten. Aber Präsident Obama scheint fest entschlossen, die Krankenversicherung für alle durchzusetzen - auch in Zeiten der Finanzkrise.
Aber trotz der viel zu hohen Zahl der Unversicherten sind die Amerikaner insgesamt relativ gesund und ärztlich gut versorgt - das zeigen jedenfalls die Überlebensraten bei den Volkskrankheiten. Was die Zahl der Fälle und Ausfallszeiten bei Diabetes, Herz- und Kreislauferkrankungen sowie Schlaganfällen angeht, liegt Amerika im Mittelfeld des europäischen Spektrums. Für viele Krebsarten sind die Fallzahlen in den Staaten besonders hoch, was man einerseits als Beleg für einen ungesunden Lebenswandel lesen kann - aber eben auch als Beweis einer erfolgreichen Früherkennung.
Die Sterblichkeit bei Krebserkrankungen ist in den USA jedenfalls überraschend gering. Brustkrebs beispielsweise wird in Amerika häufiger diagnostiziert als in den Ländern Westeuropas, aber die Zahl der Frauen, die daran sterben, liegt am unteren Ende der europäischen Skala. Bei den vier größten Killern Darm-, Lungen-, Brust- und Prostatakrebs melden alle europäischen Nationen schlechtere Überlebensraten als die USA.
Schwächen in der Familienpolitik
Wenn wir uns die anderen Instrumente der Sozialpolitik ansehen, bietet sich dasselbe Bild: Die USA liegen im Vergleich mit europäischen Nationen in der unteren Hälfte der Tabelle. Wie bei der Arbeitslosenhilfe geben die Vereinigten Staaten auch bei den Beihilfen für Behinderte pro Kopf mehr Geld aus als Griechenland und Portugal - und sie liegen ungefähr auf einem Level mit Frankreich, Italien, Irland und Deutschland (alle Zahlen in diesem Vergleich berücksichtigen übrigens die unterschiedlichen Lebenshaltungskosten).
Bei den staatlichen Pensionen liegen die USA am unteren Ende der Skala, das ist wahr. Aber wenn man sich das verfügbare Einkommen der Pensionäre ansieht (Prozentsatz des Einkommens der arbeitenden Bevölkerung), erkennt man, dass es nur den Senioren in Österreich, Deutschland und Frankreich besser geht.
Der amerikanische Staat tut nicht viel in der Familienpolitik, auch das ist bekannt. Elternurlaub oder Erziehungszeiten sind vom Gesetzgeber nicht vorgesehen, und es besteht keine Jobgarantie für Mütter, die in den Beruf zurückkehren wollen. Auch ein Kindergeld gibt es nicht. Aber wenn man andererseits analysiert, wie hoch die Rückflüsse für Familien aus der Steuererklärung sind, und direkte Beihilfen sowie Dienstleistungen dazuzählt und als Prozentsatz des Bruttoinlandsproduktes darstellt - dann stehen die USA besser da als Spanien, Griechenland und Italien und nur knapp schlechter als die Schweiz. Für die Kinderbetreuung in Krippen und Kindergärten gibt nur Norwegen mehr aus als Amerika.
Natürlich sind die US-Sozialausgaben insgesamt - also die Transferzahlungen des Staates - unbestreitbar niedriger als in den meisten EU-Staaten. Aber dafür bestehen in Amerika alternative Kanäle der Umverteilung - durch Spenden, durch Leistungen der Arbeitnehmer-Krankenversicherungen und durch Steuervorteile. Wenn man diese Summen addiert, erscheint der US-Sozialstaat plötzlich viel größer, als er in der Regel dargestellt wird. Mit ihrem Gesamtaufwand für Sozialpolitik liegen die USA im europäischen Mittelfeld.
Weiter zur Bildung: Hier verläuft das transatlantische Gefälle eindeutig andersherum. Der Prozentsatz an US-Bürgern, die eine weiterführende Schule oder eine Universität besucht haben, ist höher als in jeder europäischen Nation. Erwachsene Amerikaner sind also besser ausgebildet als Europäer. Und die Regierung lässt sich die Schulbildung auf allen Ebenen mehr Geld kosten als jeder Staat in Europa, wo man immer noch fest glaubt, dass wirklich gute Schulen in den USA privat sind und nur für eine Elite zugänglich sind.
Tatsächlich ist die Schuldbildung in einem geringeren Maße privatisiert, als das im europäischen System der Fall ist. Die Schulbildung war einer der ersten Gemeinschaftsaufgaben, die von der Regierung massive finanzielle Unterstützung erfahren hat - und sie rangiert bis heute auf der Prioritätenliste weit oben.
Die USA sind ein Land der Zeitungen und Bücher
Von Simone de Beauvoir stammt das Bonmot, Amerikaner müssten nicht lesen, weil sie nicht denken. Die Denkleistung lässt sich leider nur schwer quantifizieren; besser sieht es da bei dem Leseverhalten aus. Amerikaner lesen, keine Frage, und der Anteil der Analphabeten in den USA liegt in etwa auf dem Niveau des europäischen Durchschnitts. Das Angebot an Zeitungen pro Kopf ist nur in Skandinavien, Luxemburg und der Schweiz größer als in den USA.
Amerika ist stolz auf seine lange Tradition großzügig ausgestatteter öffentlicher Büchereien; der durchschnittliche US-Bürger wird so besser mit Lesestoff versorgt als sein Pendant in Deutschland, Großbritannien, Frankreich, in den Niederlanden und den Mittelmeerstaaten. Und die Amerikaner machen von diesem Angebot auch Gebrauch: 2001 liehen sie sich im Schnitt mehr Bücher als Deutsche, Österreicher, Norweger, Iren, Luxemburger, Franzosen, Italiener und die europäischen Mittelmeeranrainer. Außerdem kaufen und schreiben sie mehr Bücher als die Europäer.
In der US-Popkultur spielt Gewalt eine große Rolle - so wie der Selbstmord bei den Japanern. Ob es jetzt der Mafia-Klassiker "Der Pate" ist oder die TV-Polizeiserie "The Wire": Das Bild, das Amerika von sich selbst in die Welt sendet, ist das einer gewalttätigen Nation, die vom Verbrechen heimgesucht wird. Die meisten ausländischen Beobachter nehmen diese Darstellung für bare Münze, und ganz verkehrt liegen sie damit auch nicht. In den USA werden jedes Jahr erschreckend viele Morde verübt, pro Kopf doppelt so viele wie in der Schweiz, in Finnland und Schweden, die in Europa die Statistiken anführen.
Es besteht auch kein Zweifel daran, dass kein europäisches Land so viele seiner Bürger in Gefängnisse sperrt wie die Vereinigten Staaten. Aber sonst geht es dort eher beschaulich zu: Die Zahl der Einbrüche ist relativ hoch, aber niedriger als in Dänemark und Großbritannien. Bei Diebstählen liegen sechs europäische Nationen vor den USA; bei Körperverletzung zählt Amerika zum Mittelfeld, auf dem Niveau von Schweden und Belgien. Die Zahl der Vergewaltigungen ist hoch; aber sexuelle Übergriffe kommen nur in Dänemark, Belgien und Portugal seltener vor. In Österreich zählt man dreimal so viele dieser Delikte wie in den USA.
Auch der Drogenkonsum in den USA ist hoch - und fällt trotzdem nicht aus dem europäischem Rahmen. Eine Ausnahme ist lediglich die Zahl von Cannabis-Konsumenten, die knapp über den Werten aus Großbritannien liegt. Bei der Wirtschaftskriminalität liegt Amerika in der unteren Hälfte der europäischen Vergleichswerte. In Frankreich kommt Bestechung sechsmal so häufig vor wie in den Staaten.
Auch wenn man sich die Kriminalstatistik insgesamt anschaut, liegen die USA im unteren Mittelfeld. Nur einige wenige kleine Nationen melden weniger Verbrechen als die USA: Finnland, Österreich, Portugal und die Schweiz.