Trauer um Arafat Verzweiflung, Schüsse, Barrikaden
Ramallah - Kahlids Stimme zittert, Tränen laufen ihm über beide Wangen, unkontrollierte Schluchzer machen seine Worte schwer verständlich. "Ich glaube es nicht, ich glaube es einfach nicht", weint Khalid vor sich hin. Sein ganzer Körper wird von der Trauer geschüttelt, mit dem Ärmel seines verschlissenen, grünen Pullovers wischt er sich das Gesicht. Die ganze Nacht hat der 21-jährige Politikstudent vor Arafats Hauptquartier in Ramallah ausgeharrt, dann kam, kurz vor sechs Uhr am Morgen, die traurige Gewissheit: Jassir Arafat, Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, nationales Symbol der Palästinenser, ist tot.
Zehn Minuten sind vergangen, seit der palästinensische Minister Saeb Erekat diese Nachricht offiziell bestätigt hat. Auch die Polizisten vor der Mukata wissen noch nicht lange, dass "Abu Ammar" tot ist. Verweinte Gesichter überall. Dieselben Sicherheitskräfte, die gestern an dieser Stelle noch mit den internationalen Journalisten scherzten, stehen nun in kollektiver Verzweiflung nebeneinander, fassen sich an den Händen, schütteln immer wieder die Köpfe.
Ein ähnliches Bild im Zentrum Ramallahs, dem al-Manara-Platz: Kaum, dass die Kunde von Arafats Tod sich verbreitet, befestigen Jungen große Poster mit seinem Gesicht an Pfeilern, Türen und Pfählen. Die Läden haben heute gar nicht erst geöffnet, Mitglieder der Fatah-Bewegung Arafats vertreiben mit groben Worten die wenigen Straßenhändler, die ihre Teppiche und Küchengeräte doch noch schnell an den Mann zu bringen versucht haben. "Wie könnt ihr nur", schreit sie einer an. "An so einem Tag!". Mindestens drei Tage werden alle Geschäfte geschlossen sein, eine Woche lang ruhen die Regierungsgeschäfte, 40 Tage Staatstrauer hat die Autonomiebehörde angeordnet.
Rauchwolken, vermummte Militante in den Straßen
Es dauert nicht lange, da brennen auch die ersten Barrikaden. Autoreifen werden angesteckt, Rauchwolken von beißendem Gestank steigen auf und verdunkeln den Himmel. Aus zahlreichen Lautsprechern wehen Koranverse herüber, kein Auto, das jetzt nicht ebenfalls ein Arafat-Konterfei ziert, alle offiziellen Fahrzeuge sind schwarz beflaggt. "Abu Ammar ist tot, ihr braucht heute nicht in die Schule", erklärt ein Mann zwei kleinen Schulmädchen in blauer und grüngestreifter Uniform, die die Nachricht noch nicht erreicht hat. Eines der Mädchen fängt an zu weinen.

Fotostrecke: Palästinas Flaggen auf halbmast
Mittlerweile versammeln sich Hunderte, vielleicht Tausende im Zentrum der Stadt. Ein schwarz-weißes Tüchermeer, das sich über mehrere Straßen erstreckt. Jeder trägt heute eine Kaffiyeh, viele haben in den vergangenen Tagen des Bangens extra für diesen Tag ein Palästinensertuch gekauft, auf das Arafats Porträt aufgeprägt ist. Ein Taxifahrer stellt seinen orangefarbenen Minibus einfach auf der Straße ab und funktioniert ihn mit Bildern, Postern, selbst abgeschnittenen Palmwedeln und einem Palästinensertuch in einen Schrein für "Abu Ammar" um.
Die jungen Fatah-Anhänger finden sich derweil zu Gruppen zusammen, skandieren Parolen der Trauer, aber auch der Wut: Die Führer der arabischen Nachbarstatten werden von ihnen als Verräter beschimpft, unter anderem auch der ägyptische Präsident Hosni Mubarak, der morgen die offizielle Trauerfeier in Kairo ausrichten wird. Vielen Umstehenden gefällt das nicht: Die Jungen sind radikalisiert, stellen sich gegen die Entscheidung der palästinensischen Führung, auf diese Weise zu verfahren und Arafat anschließend in der Mukata in Ramallah zu beerdigen. Die Fatah-Jugend macht dagegen geltend, dass der "Rais" eine Bestattung in Jerusalem gewollt hat - und dass sie eben die gegen alle israelischen Widerstände auch durchsetzen wollen. "Wir wollen nicht Abu Ala und auch nicht Abu Mazen", singen sie. Denkbar, dass von dieser Gruppe ausgehend mit Unruhen zu rechnen ist. "Die Stimmung ist angespannt, sehr nervös", sagt einer, der jahrelang in der palästinensischen Polizei gearbeitet hat.
Zu allem entschlossen präsentierten sich auch die Al-Aqsa-Brigaden, der auf Arafat eingeschworene, militärische Arm der Fatah. Heute Morgen benannten sie sich offiziell in Arafat-Brigaden um. Ein Dutzend Vermummter stürmt plötzlich auf den zentralen Platz von Ramallah und feuert aus automatischen Waffen in die Luft. Schon werden Verschwörungstheorien in die Welt gesetzt: Die radikalen Aktivisten beschuldigen Israel, Arafat vergiftet zu haben - und schwören Rache. "Der Olivenzweig soll auf den Boden fallen", rufen sie in Anspielung auf die Rede Arafats vor der Uno 1974, als er die Weltöffentlichkeit vor die Wahl zwischen seinem Revolver und dem ebenfalls mitgebrachten Friedenssymbol stellte. In den kommenden Tagen wird sich entscheiden, ob es Unruhen geben wird, heißt es hier. Viele halten das für wahrscheinlich.
Alte Frauen singen für "Abu Ammar"
Um halb zehn verlässt Schadi, ein 32-jähriger Sicherheitsbeamter, seine Wohnung in Ramallah. Er trägt eine Militäruniform und ist auf alles vorbereitet. Die Nachricht vom Tode Arafats hat er sehr früh erhalten, seine Kollegen vom Geheimdienst haben ihn im Morgengrauen angerufen. "Obwohl wir so viel Zeit hatten, uns darauf vorzubereiten, habe ich doch geweint", sagt der groß gewachsene, dunkelhaarige Mann. "Geh nicht ohne deine Keffiyeh aus dem Haus", ruft ihm seine Mutter hinterher, Schadi legt sie sich um den Hals und verlässt die Wohnung. "Gott hat für jeden das Todesdatum festgelegt", sagt die Mutter. Auf ihrem Fernseher werden Bilder aus der Vergangenheit Arafats gezeigt. Nun beginnt auch sie zu weinen.
Innerhalb der Mukata stehen derweil mit ausdrucklosen, verzweifelten oder verweinten Gesichtern Hunderte Polizisten herum und wissen nicht, was mit sich anzufangen. "Gott gewähre dir ein langes Leben" - "Auch Du sollst leben": Sie begrüßen einander mit der traditionellen arabischen Beileidsbekundung. Hundertfach wird sie in der gespenstischen Stille des großen Geländes geflüstert und geschluchzt. Unterdessen werden am Haupteingang Lastwagen mit Marmor hereingelassen: In aller Eile wird die Begräbnisstätte Arafats hergerichtet. Ein Soldat nimmt einen Stapel Arafat-Poster, hängt sie an einer Wäscheleine auf. "Arafat ist das ganze Volk, und das Volk stirbt nicht", steht trotzig darauf zu lesen.
Khalid, der Politikstudent, weint mittlerweile auch nicht mehr alleine: Eine Sechsergruppe hat sich gebildet, sie umarmen sich wortlos, obwohl sie sich nicht kennen. "Einen Präsident wie Jassir Arafat bekommen wir nicht wieder", sagt einer, "Wir haben mit ihm ganz Palästina verloren, nur er konnte uns von der Besatzung befreien", sagt ein zweiter. Wieder hallen Schüsse durch die Luft, die Arafat-Brigaden drehen eine zweite Runde. An der Wand direkt neben dem Haupteingang der Mukata, wo gestern Abend junge Frauen eine Mahnwache abhielten, stehen nun alte Frauen aus den umliegenden Dörfern und singen improvisierte Trauerlieder über "unseren Helden, unseren Kämpfer".
"Unser Vater ist tot"
Zeitgleich wird innerhalb der Mukata der Sprecher des Parlaments, Ruhi Fattuh, als Übergangspräsident vereidigt. Niemand hält viel von dem nahezu unbekannten, übergewichtigen Mann. Aber wider Erwarten halten die Palästinenser sich in diesen Stunden punktgenau an ihre Verfassung. Sechzig Tage darf Fattuh im Amt bleiben, dann muss ein Nachfolger in Wahlen bestimmt werden. Wail, 27 Jahre alt, arbeitet in der bereits vor Monaten zur Vorbereitung der für 2005 angesetzten Wahlkommission. Er ist gerade aus dem Haus gegangen, trifft Freunde auf der Straße, führt leise, gedrückte Unterhaltungen. Seine Kommission wird jetzt auch die Präsidentschaftswahlen organisieren. Wail ist froh, dass es immerhin schon ein vorläufiges Wählerverzeichnis gibt. In etwa einem Monat müssen sich dann die Kandidaten selbst aufstellen. "Wenn die israelische Armee für ein paar Tage abzieht, schaffen wir das mit den Wahlen", glaubt Wail. Es wird erwartet, dass Abu Mazen, die Nummer Zwei der PLO, bürgerlich Mahmud Abbas, einziger Kandidat der PLO sein wird - und auch, dass er Arafat beerbt. Er gilt als farblos und langweilig, korrupt und verhandlungsschwach. Auf ihn werden harte Zeiten zukommen.
Für den Nachmittag, nach dem Gebet, das das Fasten beschließt, wird in der gesamten Westbank mit riesigen Trauermärschen gerechnet. Schon jetzt strömen Menschen aus Betlehem, Nablus und anderen Städten nach Ramallah, um bei der Beerdigung Arafats dabei sein zu können. "Noch sind die Checkpoints offen", erklärt ein Taxifahrer. Sollte die israelische Armee diese morgen schließen, rechnet er mit Auseinandersetzungen wie zu Beginn der Intifada vor vier Jahren: "Dann werden wieder Steine geworfen".
Zur Stunde trauern die Menschen in Ramallah - ein jeder auf seine Art: Viele haben die Extra-Ausgabe der Tageszeitung "Al-Ayyam" gekauft und betrachten die Doppelseite mit den Fotos aus Arafats Leben: Abu Ammar als Junge, als Student, als Fatah-Gründer, später mit Keffiyeh vor der Uno, beim Empfang des Friedensnobelpreises. Andere ziehen in Gruppen, mit rot-weiß-grünen Flaggen in den Händen, still durch die Straßen. Vor allem Jugendliche und Kinder zünden die vor sich hin schmurgelnden Autoreifen von neuem an; an den Straßenrändern, in den Winkeln weinen vor allem Frauen leise vor sich hin. Die Arafat-Brigaden stehen nun auch auf einmal, bewaffnet, vor dem Hauptquartier des Verstorbenen. Vor allem ein Satz ist in zahlreichen Varianten immer wieder zu hören, ganz gleich, wen man heute fragt, auch von den vermummten Kämpfern: "Unser Vater ist tot."