Trauer um die Terroropfer Norwegen widersteht dem Hass

Trauer um die Terroropfer: Norwegen widersteht dem Hass
Foto: WOLFGANG RATTAY/ REUTERSEs gibt kaum noch Hoffnung - das Wasser im Fjord ist kalt, seit zwei Tagen durchkämmen Rettungskräfte mit ihren Hunden die Ufer rund um die Insel Utøya. Taucher suchen nach Überlebenden.
Auch in der Hauptstadt Oslo sollen unter Trümmern noch Tote liegen. Der Fernsehsender NRK meldete am Sonntagvormittag, insgesamt würden noch mehr als 30 Menschen vermisst.
Am Ende von Tag zwei nach dem verheerenden Massaker von Utøya und dem Bombenanschlag von Oslo müssen die Norweger mit noch mehr Opfern rechnen. Noch mehr Menschen, deren Leben der Attentäter Anders Breivik innerhalb von Sekunden auslöschte.

Oslo: Bewegende Trauerfeier für die Toten
Ein eiskalter, zynischer, zutiefst gestörter Mann ist Breivik - das Puzzle über den Täter wurde am Sonntag immer vollständiger. Zu verstehen ist die Tat nach menschlichem Ermessen trotzdem nicht.
Am Montag will sich Breivik bei einem Hafttermin öffentlich äußern, in einem ersten Verhör habe er die Tötungen bereits "als grausam, aber notwendig erachtet", sagte dessen Anwalt Lippestad. Kurz bevor er die Bombe zündete, veröffentlichte der 32-jährige Breivik im Internet eine 1516 Seiten lange Schrift, in der er seine wirre Ideologie ausbreitet. Er habe Europa "vor Kulturmarxismus und Islamisierung retten" wollen, schreibt Breivik darin. Neun Jahre hat er seine Tat angeblich geplant. Im Frühjahr soll Breivik tonnenweise Kunstdünger gekauft haben, um daraus Bomben zu basteln.
Breiviks Vater äußert sich schockiert über die Tat seines Sohnes
Als er dann am Freitag 90 Minuten lang auf der Insel Utøya auf Kinder und Jugendliche schoss, war er ruhig und kontrolliert, fast entspannt, erzählte der Überlebende Adrian Precon. Die Polizei erklärte auf einer Pressekonferenz, dass der Täter noch viel Munition übrig hatte, als die Beamten ihn fassten.
Nach Angaben eines Chirurgen setzte Breivik sogenannte Dum-Dum-Geschosse ein - spezielle Projektile, die im Körper des Getroffenen zerfallen und besonders schwere innere Verletzungen anrichten. Chirurgen, die 16 Personen mit Schussverletzungen behandelten, hätten bislang keine vollständigen Geschosse aus den Körpern der Patienten gezogen, sagte Colin Poole, Chefarzt der Chirurgie am Ringriket-Krankenhaus in der nordwestlich von Oslo gelegenen Stadt Honefoss. "Diese Projektile sind mehr oder weniger im Innern des Körpers explodiert", sagte Poole. "Diese Projektile fügten inneren Schaden zu, der absolut entsetzlich ist."
Breivik kommt offenbar aus einer zerrütteten Familie. Sein Vater, der sich kurz nach der Geburt von Breiviks Mutter scheiden ließ, sagte der norwegischen Zeitung "Verdens Gang", er habe seit 1995 keinen Kontakt mehr zu seinem Sohn gehabt. Damals aber sei er ein "ganz gewöhnlicher Junge" gewesen, der sich nicht für Politik interessiert habe. Es sei furchtbar, was passiert ist, unverständlich, er stehe unter Schock.
Am Sonntag wurde bekannt, dass Breivik jahrelang aktives Mitglied der rechtspopulistischen Fortschrittspartei FrP war. In einer Partei, die sich in den siebziger Jahren als Anti-Steuer-Partei gründete, die stramm rechts ist, gegen Migranten und die Allmacht der Politiker wettert, die Bürokratie abbauen will und bei den Wahlen 2009 zur zweitstärksten Kraft im Parlament wurde. Die dennoch nicht vergleichbar ist mit der deutschen NPD oder anderen rechtsradikalen neonazistischen Gruppierungen.
Politische Beobachter tun sich schwer damit, den Erfolg der Rechtspopulisten in der norwegischen Gesellschaft zu erklären. Norwegen hat weltweit den höchsten Lebensstandard, der Reichtum ist wegen der Ölvorkommen auf Jahre gesichert, die Kluft zwischen arm und reich ist kleiner als in anderen Ländern. Das Land ist relativ sicher. Es muss das Gefühl sein, von diesem großen Kuchen zu wenig abzubekommen, das die Menschen für die FrP an die Urnen treibt.
Das Programm der Fortschrittspartei mag Breivik auf seinem Weg zum Wahnsinnigen über Jahre begleitet haben - einen Erklärungsansatz für seine Tat bietet auch das nicht.
Sie weinen in Würde
Es gibt keine Erklärungen - das kleine Norwegen wurde vollkommen unvorbereitet von dem Terror Breiviks getroffen. Wer das Land nicht kennt, der kann nur schwer ermessen, wie absurd ein Anschlag den Menschen scheint, wie unwirklich. Immer wieder sagen die Menschen auf der Straße: "Wie kann so etwas ausgerechnet hier passieren?"
Denn mit seiner Tat hat Breivik den Kern der norwegischen Gesellschaft getroffen. Auf perfide Weise hat er ausgenutzt, was Norwegen zu einem so außergewöhnlichen Land macht. Zu einer offenen, angstfreien Gesellschaft, einem Land, in dem Top-Politiker auf der Straße ohne Wachmänner mit der Bevölkerung plaudern, einem Land, in dem es wenig Gewalt gibt, in dem noch vor wenigen Jahren viele Menschen selbst in Oslo ihre Tür nicht abschlossen, wenn sie das Haus verließen. Menschen, die nicht aus der Ruhe zu bringen sind, das meiste leicht nehmen und für viele Deutsche oft eine geradezu provozierende Gelassenheit an den Tag legen. Das Leben mit und in der Natur, das fröhliche, zupackende Engagement für die Gesellschaft - also das, was die Jugendlichen auf der Insel Utøya lebten, es sind Herzstücke der norwegischen Kultur.
Breivik sagte nun laut seines Anwalts, er wollte die norwegische Gesellschaft beschädigen, er wollte eine neue Ordnung schaffen.
Er hat die norwegische Gesellschaft tatsächlich schwer getroffen, aber so wie es aussieht, wird er sie nicht verändern.
Das Land sucht Trost. Wie wichtig der Beistand der ganzen Welt für das kleine Norwegen ist, wurde klar, als Premier Stoltenberg beim Trauergottesdienst in der Osloer Domkirche bei einer zentralen Stelle seiner Rede aufzählte, welche Staatschefs Norwegen ihr Mitgefühl versichert hatten.
Aber auch in der tiefsten Trauer werden die Norweger nicht hysterisch und widerstehen dem Hass. Es ist verblüffend zu sehen, wie Politiker, Menschen auf der Straße, Angehörige auf die Tat reagieren. Sie sind traurig bis in die letzte Faser ihrer Seele, sie weinen in Würde. Doch niemand schwört Rache, niemand macht es sich bei der Suche nach Erklärungen leicht, es sind keine martialischen Reflexe zu hören. Statt Vergeltung wollen die Norweger jetzt noch mehr Humanität, noch mehr Demokratie.
Es ist bezeichnend für die Stärke dieses kleinen Volkes.