Tschechiens Extremismusproblem Prager Winter

Noch in den Neunzigerjahren reagierte Tschechien auf Rassismus und Hetze mit einem "Aufstand der Anständigen". Das Land hat sich verändert, heute hofiert die Politik rechtsextreme Parteien als Mehrheitsbeschaffer.
Demonstration in Prag

Demonstration in Prag

Foto: David W Cerny/ REUTERS

Es war nur ein harmloses Foto von Erstklässlern. Sechs-, siebenjährige Kinder einer Grundschule im nordtschechischen Städtchen Teplitz mit ihren Lehrerinnen. In die Klasse gehen tschechische, vietnamesische, arabische und Roma-Kinder, so wie in viele Schulklassen in dem Städtchen und im ganzen Land.

Das Foto erschien in der Teplitzer Regionalausgabe der tschechischen Boulevardzeitung "Deník". Dort entdeckten es Mitglieder einer rechtsradikalen tschechischen Facebook-Community und stellten es ins Netz. Innerhalb weniger Tage erschienen Hunderte rassistischer Kommentare dazu. Etwa: "Multikulturelle Kacke!", "Eine Klasse voller Terroristen!", "Da gehört eine Granate rein!" oder "Die Schule liegt in der Gaswerk-Straße, da wird die Lösung direkt angeboten".

"Deník" und andere tschechische Medien machten den Vorfall vergangene Woche öffentlich, viele Kommentatoren äußerten sich entsetzt. Seitdem debattiert Tschechien über das Problem des Rassismus und Extremismus im Land. Zumal es nicht nur um diesen einen Vorfall geht. Am 4. November wurde in Prag ein Westafrikaner in einer Straßenbahn brutal attackiert: Fußball-Hooligans beschimpften den 36-Jährigen, der seit zehn Jahren in Tschechien lebt und dort promoviert hat, als "Nigger", bewarfen ihn mit Zitronen und verprügelten ihn.

Es sind längst nicht die schwersten derartigen Vorfälle in Tschechien. In den Neunzigerjahren und nach 2000 verübten Rechtsextreme mehrere rassistisch motivierte Morde an Roma und an Afrikanern. Doch damals herrschte in der Politik und in der Öffentlichkeit ein breiter antirassistischer und antiextremistischer Konsens - so etwa löste ein Skinhead-Mord an einem sudanesischen Studenten 1997 einen tschechischen "Aufstand der Anständigen" aus.

Irritierende Äußerungen des Staatspräsidenten

Dieser Konsens fehle heute, beklagen viele Kommentatoren. "Václav Havels Ideen vom Schutz der Menschenrechte und von der Solidarität mit den Schwächeren sind fast vergessen", schreibt der prominente Journalist Petr Honzejk in der liberalen Tageszeitung "Hospodárské noviny": "Wenn es in der Tschechischen Republik heute einen rassistischen Angriff gibt, schweigen die Politiker meistens oder bagatellisieren den Rassismus sogar, weil 'solche Dinge eben passieren'."

Demonstranten vor dem Prager Schloss

Demonstranten vor dem Prager Schloss

Foto: David W Cerny/ REUTERS

Unter den wenigen Spitzenpolitikern, die die rassistischen Vorfälle scharf kritisierten, waren der Noch-Regierungschef Bohuslav Sobotka und der Bildungsminister Stanislav Stech. Staatspräsident Milos Zeman hingegen äußerte sich relativierend - er verurteilte zwar die Prügelattacke der Hooligans wie auch rassistische Gewalt allgemein, sagte aber zugleich, derartige Angriffe würden "von Zeit zu Zeit passieren, unabhängig von der Hautfarbe".

Kurz darauf sorgte Zeman mit rassistischen Bemerkungen über Roma für Schlagzeilen: Neunzig Prozent der Roma lehnten es ab, zu arbeiten und seien daher nicht integrierbar, so Zeman vergangene Woche in einem regionalen Fernsehsender. Auch derartige Äußerungen sind kein Einzelfall - nicht nur von Zeman: Im September beispielsweise hatte der stellvertretende Wirtschaftsminister und Sozialdemokrat Karel Novotný auf Facebook geschrieben: "Zigeuner sind wie Quallen - nervig und nutzlos."

Im Netz fühlen sich viele Hetzer sicher

Die jüngsten rassistischen Vorfälle stehen auch im Kontext der Parlamentswahl von Ende Oktober, bei der Anti-Establishment-Parteien und Rechtsextremisten große Erfolge erzielten. Die Protestpartei "Aktion unzufriedener Bürger" (ANO) des Milliardärs Andrej Babis kam auf rund 30 Prozent, die rechtsextreme "Freiheit und direkte Demokratie" (SPD) des tschecho-japanischen Unternehmers Tomio Okamura auf 10,6 Prozent.

Politiker Zeman (l.), Babis

Politiker Zeman (l.), Babis

Foto: Petr David Josek/ AP

Zunehmender Extremismus und eine wachsende Anti-Establishment-Stimmung ließen sich in Tschechien schon seit längerem beobachten, sagt der Rechtsextremismus-Forscher und Politologe Miroslav Mares von der Masaryk-Universität Brünn im Gespräch mit dem SPIEGEL. Das hinge auch mit der Flüchtlingskrise und den islamistischen Terroranschlägen in westeuropäischen Ländern zusammen. "Es gibt eine große Welle rassistischer Hetze, vor allem im Internet, immer mehr Tschechen meinen, sie können sich auf diese Weise offen äußern", so Mares. "Das sind nicht nur Rechtsextreme, sondern auch ganz normale Bürger."

Möglicherweise werden Rechtsextreme bald auch zu Mehrheitsbeschaffern im Parlament. Der designierte Regierungschef Andrej Babis führt seit drei Wochen Koalitionsverhandlungen - bisher erfolglos. Weil alle demokratischen Parteien es bislang ablehnen, mit Babis und seiner ANO-Partei zu regieren, geht der Milliardär nun auf Tuchfühlung mit der rechtsextremen SPD und den Kommunisten.

Kein Problem mit mehr Mitsprache für die Rechten

Ihre direkte Regierungsbeteiligung hat Babis zwar bisher ausgeschlossen, doch sie könnten ein ANO-Minderheitskabinett unterstützen. Der SPD-Chef Tomio Okamura fordert dafür zumindest eine teilweise Umsetzung seiner Programmatik. Dazu zählt unter anderem ein Verbot des Islam in Tschechien, eine Kürzung bestimmter Sozialleistungen, die vor allem Roma erhalten, sowie eine Schließung der Grenzen für Flüchtlinge. Zumindest in letzterem Punkt stimmen Okamura und Babis überein - eine strenge Abschottungs- und Antimigrationspolitik zählt zu den Hauptversprechen, die Babis im Wahlkampf machte.

"Babis kokettiert mit den Extremisten", titelten tschechische Medien zuletzt. Staatspräsident Milos Zeman scheint das kaum zu beunruhigen. Er hätte mit einer Koalition aus ANO, SPD und Kommunisten, wie er in einem Interview sagte, "absolut kein Problem".

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