Tschetschenien Die Wahl der toten Seelen
Hamburg - Wenn es dunkel wird in der Hauptstadt Grosny, beginnt die Ausgangssperre. Tagsüber stehen an allen wichtigen Straßen des von russischen Truppen besetzten Tschetschenien Posten, die jeden Wagen kontrollieren: Die Stimmung der Soldaten ist schlecht; seit 1999 gab es 194 protokollierte Fälle von Fahnenflucht.
Viele Soldaten marodieren: Bei der Militärstaatsanwaltschaft gingen in den ersten sechs Monaten dieses Jahres 473 Klagen der Bevölkerung gegen Besatzer-Übergriffe ein. Sie untersucht derzeit 59 mutmaßliche vorsätzliche Tötungen, drei Anzeigen wegen Vergewaltigung sowie eine wachsende Anzahl von Gewaltakten der Offiziere gegenüber den eigenen Untergebenen.
Ein Land im Ausnahmezustand, kaum geeignet für die Veranstaltung einer freien Wahl des Präsidenten, die am 5. Oktober stattfinden soll. Die Veranstaltung, die Ruhe und Frieden, gar einen Sieg über die als "Terroristen" eingestuften Widerständler bringen soll, lässt sich Moskau umgerechnet fast zwei Millionen Euro kosten.
Im Süden des noch immer der Russischen Föderation zugehörigen Landes haben sich die Moskauer Regierungstruppen permanent der Attacken von Partisanen zu erwehren. Ein "Staatliches Verteidigungskomitee der Republik Itschkeria", wie die Separatisten ihr Bundesland nennen, verkündete jetzt, mangels einer politischen Lösung des Kolonialkonflikts den Befreiungskrieg auf das Territorium des Gegners zu tragen: nach Russland.
Dabei geschieht das längst, erst am 15.September im benachbarten Inguschien, wo das Hauptquartier der russischen Geheimpolizei in die Luft flog, und am dramatischsten vor knapp einem Jahr mit der Geiselnahme im Moskauer Musical-Theater. Dabei wurden die 129 Zivilisten getötet - sie starben bei einem Befreiungsversuch der russischen Geheimpolizei, bei dem auch die Terroristen getötet wurden.
Chef dieses "Verteidigungskomitees" ist Aslan Maschadow, der 1997 unter internationaler Kontrolle gewählte Präsident Tschetscheniens. Von Moskau nicht anerkannt, lebt er im Untergrund und kann nicht wieder kandidieren. Doch die Wahlveranstalter befanden, er müsse erst noch förmlich abgesetzt werden. So beschlossen es am 5. September 42 der 43 noch lebenden von einst 49 Abgeordneten des Tschetschenen-Parlaments. Grund: Maschadow habe - vor Jahren - eigenmächtig die Scharija eingeführt, die muslimische Rechtsordnung. Dieses "Verbrechen" verstoße gegen die Verfassung.
Allerdings ist diese Begründung hintersinnig: Demnach gilt die Verfassung, die Tschetschenien zum "gleichberechtigten Subjekt des Völkerrechts" erklärt hat, also zum selbständigen Staat. Zudem tritt laut dieser Verfassung Maschadows Stellvertreter die Nachfolge an, und das ist Wacha Arsanow, ein bekannter Terrorist.
Der Parlamentsbeschluss blieb eine Woche lang geheim, bis der aussichtsreichste Bewerber um das Präsidentenamt seine Kandidatur per Telefon zurückgezogen hatte: Aslan Aslachanow, ein tschetschenischer Abgeordneter in der Staatsduma, dem russischen Parlament in Moskau. Zuvor noch hatte Aslachanow getönt, von der Kandidatur könne ihn nur abhalten, was auch andernorts im Russischen Reich keineswegs mehr ungewöhnlich ist: eine Kugel.
Putins Geschoss aber war eine Beförderung, auch dies ein gängiges Verfahren, zum Beispiel beim Wegräumen des Gouverneurs von St. Petersburg oder seines Kollegen auf Sachalin. Putin berief Aslachanow zu seinem persönlichen Kaukasus-Berater, und schon warf der Geehrte das Handtuch.
Andere Bewerber gaben auf, nachdem sie Todesdrohungen aus dem Umkreis der Leibwache jenes Kandidaten empfangen hatten, der als Putins Favorit gilt. Der ehemalige Mufti Achmed Kadyrow ist derzeit Tschetscheniens Verwaltungschef von Moskaus Gnaden. Für alle Fälle steht aber noch der kremltreue Naturwissenschaftler Awchad Chatschukajew bereit. Kadyrow verkündete denn auch: "Kreml-Kandidat ist für mich ein großes Kompliment aber dem ist nicht so." Meinungsumfragen ergaben, dass er keine Mehrheit gewinnen könnte - deshalb werden seine Rivalen systematisch ausgeschaltet.
Das geht auch ganz friedlich. Die Wählerverzeichnisse richten sich nach einer Volkszählung vom vorigen Jahr, wonach es 540.000 Wahlberechtigte in Tschetschenien gibt. 200.000 davon stehen nur auf dem Papier, schätzt die "Gesellschaft für bedrohte Völker". Sie sind geflüchtet, zwangsumgesiedelt oder verstorben: "Tote Seelen" - so wie ein paar Prozent auch schon bei Putins eigener Wahl zum Präsidenten Russlands im Jahr 2000. Dafür dürfen nun aber auch 14.000 in Tschetschenien stationierte Angehörige der Besatzungstruppen ihre Stimme abgeben.
Bei der hohen Zahl von angeblichen Wahlberechtigten bedeuten die zwei Prozent davon, die zur Unterstützung eines Kandidaten nötig sind, immerhin 11.000 Unterschriften, die hernach in den Dossiers der Geheimpolizei landen. Anfangs fanden sich 14 Anwärter für das hohe Amt. Doch dem Bewerber Malechow, einem Polizeioberst, fehlten laut Wahlkommission fünfzig, dem Redakteur Sakujew hundert Unterstützer: Ausgeschieden. Der Unternehmer Sajdullew hatte nach Meinung des Obersten Gerichts gar Listen gefälscht, was er gewiss nicht nötig hatte: Gestrichen. Der Geschäftsmann Dscharailow gab auf, weil er zu der Ansicht gelangt war, dass Politik und Wahlen gar nichts taugten, solange andere Menschen ums Leben kommen oder einfach verschwinden. Bleiben noch fünf chancenlose Behördenleiter aus der Provinz.
Der Tschetschene Ruslan Chasbulatow, Volkswirt und erster Präsident der russischen Duma, hatte seinen Plan einer Anwartschaft auf das Präsidentenamt rasch wieder fallen lassen. Stattdessen veröffentlichte er zusammen mit dem ins Ausland vertriebenen Oligarchen Boris Beresowski und mit Jelena Bonner, der Witwe des Friedensnobelpreisträgers Andrej Sacharow, in großen Zeitungen des Westens eine ganzseitige Anzeige. Darin heißt es, dass "Wladimir Putin persönlich für die Kriegsverbrechen und den Völkermord in Tschetschenien verantwortlich ist". Und auch für die Toten im Musical-Theater.
Vertreter des Europarats, der OSZE und der Arabischen Liga sind eingeladen, die Abstimmungen in den 427 Wahllokalen zu beobachten. Die tschetschenischen Menschenrechtsorganisationen haben aber auf einer Konferenz in Nasran (Inguschien) dafür plädiert, keine Kontrolleure zu entsenden, "um nicht den Eindruck zu erwecken, dass eine schmutzige Sache sauber ist".